Romane
Comedy mit Burka
Azime Gevas, 20 Jahre alt, lebt mit ihrer kurdischen Familie in London. Obgleich sie ihr ganzes Leben in England verbracht hat, bestimmen die kurdischen Traditionen ihrer Eltern Azimes Leben. Die Mutter bemüht sich vergebens, einen Mann für ihre Tochter zu finden. Der Vater betreibt ein erfolgloses Geschäft mit Couchgarnituren und lässt Azime für sich arbeiten. Eines Tages stolpert diese eher zufällig mit Deniz, einem der Familie unbekannten Freund, in einen Kurs für Hobby-Comedians. Dort findet Azime, deren Leben streng reglementiert ist und sich größtenteils im kontrollierten Kosmos ihrer Familie abspielt, ihre wahre Berufung und blüht regelrecht auf.
Um ihre Identität nicht preiszugeben, hüllt sich Azime bei ihrem ersten Auftritt in eine Burka. Die Angst, von ihrer Familie beim zynischen Plaudern über ihr Leben als Kurdin im freien England entdeckt zu werden, ist schlicht zu groß. Doch wird genau diese ungeplante Maßnahme zu ihrem ganz besonderen Alleinstellungsmerkmal, das Azime in der Londoner Kultur-Szene zur großen Nummer werden lässt: Die erste muslimische Comedian mit ihrem Markenzeichen, der Burka. Ihre bissige Darstellung der Familienverhältnisse bleibt nicht ungehört. Rasch zieht sie sich den Zorn einiger Muslime, die ihr mit körperlicher Gewalt drohen, auf sich und natürlich auch das Interesse der Medien. Somit ist es nur eine Frage der Zeit, bis ihre Identität enthüllt wird und ihre Familie erfährt, was Azime so treibt.
"funny girl" ist der sechste Roman aus der Feder des in London lebenden Neuseeländers Anthony McCarten. Mit "Superhero", der Geschichte über den jugendlichen Außenseiter Donald Delpe, dem Nachfolger "Ganz normale Helden" oder auch dem herrlich komischen "Hand aufs Herz" hat McCarten in den vergangenen Jahren einige Romane geschrieben, die das ganz große Interesse der Öffentlichkeit auf sich gezogen hatten. Nicht umsonst veröffentlicht der multi-talentierte Neuseeländer seine Werke seit jeher beim Zürcher Diogenes Verlag, was durchaus gewisse Vorschusslorbeeren mit sich bringt. Neben der vorliegenden Buchausgabe ist von "funny girl" auch eine Hörbuchausgabe erschienen, die von keinem geringeren als Rufus Beck vorgetragen wird.
Azime durchlebt mutmaßlich das Leben eines ganz normalen Teenagers bzw. jungen Twens, der gefangen ist zwischen der Moderne seines Umfelds und den antiquierten Traditionen seiner Familie. Azime ist somit beileibe kein Einzelfall, doch ihr Umgang mit der Situation macht sie zu einem einzigartigen Wesen. Auslöser für Azimes Ausbruch ist der Selbstmord eines Mädchens aus ihrem näheren Umfeld, das die verbotene Liebe zu einem italienischen Jungen auf Druck ihrer Familie nicht ausleben durfte und in eine ausweglose Situation getrieben wurde, aus der sie sich nicht anders zu befreien wusste als mit dem Sprung von einem Hochhaus.
McCarten ist spezialisiert auf die Geschichten von Außenseitern mit einem hohen Sympathiepotential. Der Leser begeistert sich an den Protagonisten des Neuseeländers und nimmt Partei ein für die Azimes dieser Welt. Man freut sich mit ihr über ihren Erfolg als Comedian, genießt ihre Lobeshymnen in der Presse und den Applaus auf der Bühne, weiß jedoch, dass sie dies immer mehr von der eigenen Familie entfernen wird. Der kommende Bruch ist unvermeidlich und es scheint keinen Weg zurück zu geben. Doch McCarten weiß um die emotionalen Schwachstellen scheinbar despotischer Familienväter und ermöglicht dem Leser und Azime letztlich doch ein Happy End auf allen Ebenen.
"funny girl" ist ein wunderbares Buch über die traurige Situation einer Außenseiterin. McCarten vermischt die ernsten Passagen über Azimes traditionsbestimmtes Leben mit soviel Humor, dass der Leser schlicht vergisst, hier einen Menschen in einer eigentlich ausweglosen Situation vor sich zu haben, der es nur mit sehr viel Fortune schafft, das Leben schlussendlich nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. McCarten thematisiert sehr humorvoll das Anderssein in der Gesellschaft und zeigt auf, dass Toleranz und Akzeptanz gegenüber Abweichungen von der Norm eigentlich keiner expliziten Thematisierung bedürfen sollten, sondern alltäglich gelebt werden sollten.
Christoph Mahnel
10.03.2014