Romane

Ein posthumer Gruß aus Portugal

In einem Lissabonner Mietshaus der Vierziger Jahre nehmen der Schuster Silvestre und seine Frau Mariana aus Geldsorgen den Lebemann Abel als Untermieter auf. Die beiden Schwestern Isaura und Adriana verbringen zusammen mit ihrer Mutter Cândida und ihrer Tante Amélia ein tristes Leben ohne Männer in ihren vier Wänden. Dona Lídia genießt als einzige Bewohnerin des Hauses ein Leben frei von finanziellen Sorgen, wofür ihr Liebhaber Sorge trägt, ein reicher Unternehmer, der Dona Lídia regelmäßig beehrt. Während Anselmo und Rosália ihren ganzen Stolz, die zur Frau werdende Tochter Maria Claudia, bewundern, leidet Justina immer noch unter dem Leukämie-Tod ihrer Tochter und unter Caetano, ihrem Wüstling von Ehemann. Die Galizierin Carmen hadert ebenfalls mit ihrer Ehe und konkurriert mit ihrem Mann Emílio um die Liebe ihres Sohnes Henrique.

"Claraboia" ist das portugiesische Wort für Dachfenster und genau durch selbiges scheint der portugiesische Literatur-Nobelpreisträger José Saramago in besagtes Mietshaus der portugiesischen Hauptstadt einzusteigen. Gleich im ersten Kapitel wird Saramagos phänomenales Erzähltalent offensichtlich. Wie auf Samtpfoten bewegt er sich durch die verschiedenen Wohnungen des Mietshauses und lauscht hier und dort den Geschichten des Alltags. Hat es anfangs noch den Anschein, dass hier sechs Mietparteien unabhängig voneinander die Probleme ihres Alltags bestreiten müssen, verflicht Saramago allmählich und ganz verhalten die Schicksale einzelner Protagonisten miteinander. "Claraboia" ist die liebenswürdige und zugleich zutiefst traurige Erzählung aus einem Lissabonner Mikrokosmos, die den Schicksalen der einfachen Portugiesen zur Zeit der Salazar-Diktatur eine Stimme verleiht.

Der im Jahre 1922 geborene Saramago versuchte sich Anfang der Fünfziger Jahre erstmalig als Schriftsteller. Nach seiner Novelle "Die Witwe" hatte er "Claraboia" als seine zweite Veröffentlichung geplant, doch zeigte sich der Verlag, bei dem er das Manuskript seinerzeit eingereicht hatte, sehr zögerlich und ließ Saramago letztlich nie eine Antwort zukommen, ob sie denn gedenken, das Werk zu veröffentlichen. Später hieß es dann, dass "Claraboia" verschollen sei. Erst ein knappes halbes Jahrhundert später wurde es bei einem Umzug im Jahre 1999 wiederentdeckt. Saramago war von dem Fund offensichtlich elektrisiert, doch war sein Stolz scheinbar zu sehr verletzt, als dass er es umgehend der Öffentlichkeit hätte zukommen lassen wollen. Stattdessen nahm Saramago, der 2010 starb, "Claraboia" mit ins Grab, so dass es erst posthum veröffentlicht werden konnte. Die vorliegende deutsche Erstauflage ist ein zwar verspätetes, aber zweifellos großartiges Geschenk für die Freunde des gepflegt erzählten Wortes.

Bedenkt man, dass Saramago die Schriftstellerei erst in den Achtzigern und Neunzigern ernsthaft wiederaufnahm und schließlich höchst erfolgreich betrieb, ist die Einordnung von "Claraboia" als Frühwerk Saramagos gelinde gesagt eine Untertreibung. Das vorliegende Buch stammt aus einer anderen Epoche Saramagos, nachdem er sich zwischen "Claraboia" und seiner Hochschaffensphase jahrzehntelang wahlweise als Übersetzer, Journalist und Literaturkritiker verdingte.

Die Wertschätzung Saramagos, die er bereits zu Lebzeiten erfahren durfte und in der Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1998 gipfelte, ist auch post mortem keiner sentimentalen Verklärung der Vergangenheit geschuldet, sondern - wie das vorliegende Buch beweist - mehr als berechtigt. Man spürt bereits das feine Erzähltalent Saramagos und seine ausgeprägte Fähigkeit, Personen scharfsinnig zu charakterisieren, auf jeder Seite dieses kleinen Juwels. Überraschend mag man aus heutiger Sicht lediglich die frühe Klasse konstatieren, die Saramago bereits in jungen Jahren an den Tag legte, während man ihn heute doch vor allem für seine Werke aus der Periode des späten 20. Jahrhunderts rühmt.

In "Claraboia" gelingt es Saramago, auf 350 Seiten dem Leser 18 Personen in einem Mietshaus derart nahezubringen, dass man förmlich mit ihnen leidet und ihnen den rechten Weg weisen möchte. Saramago vollbrachte mit gerade einmal dreißig Lenzen eine Leistung, die landläufigen Schriftstellern nicht einmal auf 1000 Seiten auch nur annähernd gut gelingt. "Claraboia" ist eines der seltenen Bücher, das man nach Abschluss eines Kapitels bewundernd schließt, noch einige Sekunden länger als nötig in den Händen hält und mit einem verklärten Blick betrachtet, da man rundum glücklich ist, dass man es besitzt und es einem noch einige Stunden großartige Unterhaltung liefern wird.

Christoph Mahnel 
21.05.2013

 
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Das Buch:

José Saramago: Claraboia oder Wo das Licht einfällt. Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner

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Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag 2013
351 S., € 22,99
ISBN: 978-3-455-40439-5

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