Romane
Neues vom wunderbarsten Geschichtenerzähler des Erdkreises
Viele bezeichnen ihn als den gr??ten lebenden Geschichtenerz?hler. Seine Romane umfassen selten weniger als 700 Seiten, da er sich gro?z?gig den Raum nimmt, um seine Charaktere zu entwickeln, groteske Situationen heraufzubeschw?ren und schlie?lich bevorzugt die Geschichte eines ganzen Lebens zum Besten zu geben. Die Rede ist von John Irving, dem US-amerikanischen Schriftsteller, der mit Vorliebe von seinen Lieblingstieren, den B?ren, von seiner Lieblingssportart, dem Ringen, von Europa, insbesondere von Amsterdam und Wien, und von Neu-England, seiner Heimat, erz?hlt.
Da Irving seine Romane stets im gro?en Stil anlegt, vergehen zum Leidwesen seiner Leser oftmals mehrere Jahre, bis sein jeweils neuestes Werk den letzten Schliff erhalten hat, um an die ?ffentlichkeit zu gelangen. In der Regel erscheint alle drei bis vier Jahre ein neuer Irving, der hierzulande im eleganten, wei?en Gewand des herausgebenden Diogenes Verlags daherkommt. Lediglich "Garp und wie er die Welt sah", mit dem Irving Ende der Siebziger seinen Durchbruch als Schriftsteller feierte, erschien einst in einem anderen Verlag. Doch um diesen Makel zu tilgen, haben die findigen Schweizer diesen Roman zu Jahresbeginn neu aufgelegt und wissen somit das komplette Portfolio des Erfolgsautors in ihrem Programm.
"In einer Person", der neueste Roman aus der Feder Irvings, erz?hlt die Geschichte des William Abbot. Geboren wird er im M?rz 1942. Die Handlung setzt in den pr?den f?nfziger Jahren Amerikas ein, als William, genannt Billy, f?nfzehn Jahre alt ist und die ersten Gehversuche im Rahmen seiner sexuellen Identit?tssuche unternimmt. Billy f?hlt sich zu beiden Geschlechtern hingezogen und ist in einem Land, das f?r eine solche Orientierung noch nicht bereit ist, hin- und hergerissen. Dieses Dilemma hat f?r ihn und seine ihm nahestehenden Menschen weitreichende Folgen, die von Irving nat?rlich genussvoll ausgeschlachtet und dargestellt werden.
Irving gl?nzt auch in seinem neuesten Werk wieder mit Charakteren, die einem ?ber die 725 Seiten hinaus in Erinnerung bleiben werden. Miss Frost, die ringende Bibliothekarin, ist hier sicherlich an vorderster Stelle zu nennen. Sie erweckt die sexuellen Gef?hle im jungen Billy und f?hrt ihn in einer denkw?rdigen Szene in die Geheimnisse der Zweisamkeit ein. Der Ich-Erz?hler Billy, den sein Sch?pfer nicht v?llig chronologisch erz?hlen l?sst, wandert zwischen beiden Geschlechtern durch die Jahrzehnte mit einem tragischen Einschnitt in den Achtzigern, als Aids das Leben und Lieben nachhaltig ver?ndert. Irving gelingt hier eine detaillierte und schonungslose Darstellung der Krankheit und ihrer Folgen.
Das vorliegende Buch wirbt f?r Toleranz gegen?ber Menschen, die anders sind, anders denken oder anders f?hlen. Dass dieses Pl?doyer eindringlich wird, gelingt John Irving durch seine Art und Weise, Geschichten zwar absurd wirken zu lassen, aber zugleich liebevoll vorzutragen und mit viel Humor auszustatten. Wie schon einst in "Owen Meany" l?sst es sich der Autor auch im vorliegenden Werk nicht verbieten, politische Aussagen einzubringen. Es d?rfte daher kein Geheimnis sein, dass Irving mit dem Ergebnis der US-Pr?sidentschaftswahl vor kurzem hoch zufrieden sein d?rfte, schlie?lich hatte er sich ?ffentlich ganz deutlich gegen Mitt Romney positioniert.
"In einer Person" l?sst sich schlussendlich als typischer Irving-Roman klassifizieren, der wieder mit Ringen und B?ren aufwartet, in dem ein Intermezzo in Wien, derjenigen Stadt, in der Irving selbst zwei Semester studierte, stattfindet, und das mit der Abwesenheit eines Vaters, einer weiteren Parallele zu Irvings Leben, gl?nzt. Wie viele Romane John Irving allerdings noch produzieren wird, steht in den Sternen, denn er, der in diesem Jahr seinen siebzigsten Geburtstag feierte, hat bereits erkannt, dass der Moment, in dem er konstatieren muss, dass er nicht mehr alle in seinem Kopf umherschwirrenden Buchvorhaben in die Tat umsetzen kann, in Reichweite liegt. F?r seine gro?e Anh?ngerschar bleibt daher zu hoffen, dass der agile und immer noch sportliche Irving schonend mit seinen Ressourcen umgeht und es ihm in der verbleibenden Zeit gelingt, eine weitere Handvoll Romane seinem bereits gro?artigen Lebenswerk hinzuzuf?gen.
Christoph Mahnel
03.12.2012