Romane
Wenn der Schuster nicht bei seinen Leisten bleiben will
Wir befinden uns in der Mitte der 60er Jahre. Der 25-j?hrige Michael Kaltenbach wei? eines genau: Am allerliebsten w?rde er es zum Dichter oder Schriftsteller bringen. ?ber das Talent hierzu scheint er durchaus zu verf?gen. Doch das, woran es ihm offenbar mangelt, ist ein gesundes Selbstbewusstsein, das fraglos f?r eine Karriere als Literat mindestens genauso wichtig ist. Wohl aus diesem Grund hat er sich vorerst f?r eine mit weniger Hindernissen verbundene Alternative entschieden. In die Fu?stapfen seines Vaters zu treten und ebenfalls eine Karriere als Jurist einzuschlagen, hat sich in der Tat als einfacherer Weg durchs Leben erwiesen. Doch dass ein solches Dasein ihn sonderlich erf?llt, kann er wahrlich nicht behaupten.
?ber all dies und noch viel mehr hat Michael Gelegenheit, in einer n?chtlichen Zugfahrt nachzudenken. Begleitet von seinem treuen, langj?hrigen Kumpan Eugen will er von seinem Heimartort K?llen nach K?ln fahren. Doch statt sich mit seinem Lesestoff zu besch?ftigen, l?sst er lieber seine Gedanken schweifen. Selbstverst?ndlich w?rde Michael lieber auf eine bewegtere Lebensgeschichte zur?ckblicken k?nnen, doch ohne seine Erinnerungen an seinen m??ig talentierten Fu?ballverein, seinen eher geringen Erfolg beim anderen Geschlecht und andere durch die Bank wenig beeindruckende Episoden aus seinem Leben w?re er nicht er. Und vielleicht h?lt die Zukunft Besseres f?r ihn bereit? Bis der Leser allerdings Michaels Beweggr?nde f?r die Wahl seines Ziels erf?hrt, wird er noch eine Weile auf die Folter gespannt ...
N?chtliche Zugreisen haben bekanntlich ihren ganz eigenen Reiz - es sei denn, man geh?rt zu denjenigen, f?r die sie schon zur Routine geworden sind. Eigentlich d?rften sich auch der leicht neurotische Michael und der verschrobene, stotternde Eugen durchaus als erfahrene Zugfahrer bezeichnen. Doch der Leser bemerkt schnell, dass an jenem Abend etwas Besonderes in der Luft liegt. Und hiermit nicht genug: Passend hierzu schickt sich der deutsche Autor Benno Hurt an, demjenigen, der "Im Nachtzug" zur Hand nimmt, ein ebenso au?ergew?hnliches Lesevergn?gen zu kredenzen.
Bereits mit den ersten Zeilen des Romans macht Hurt deutlich, dass er es versteht, bestechende Stimmungen zu erzeugen, doch nicht nur die dichte Atmosph?re ist es, was "Im Nachtzug" so besonders macht. Auch die virtuos eingeflochtenen Metaphern, die effektiv eingesetzten surrealen Elemente und die allgegenw?rtige Vielzahl an ungebremst kreativen Kompositionstechniken werden auch anspruchsvollen Viellesern signalisieren, dass hier ein Meister seines Fachs am Werke ist.
Zugestandenerma?en verlangt der Roman dem Leser dann und wann durchaus ein wenig Kopfarbeit ab, um zwischen der komplex verwobenen Vielzahl an Reflexionen, Denkbildern und zeitgeschichtlichen Anspielungen den ?berblick zu behalten. Doch der Mehraufwand lohnt sich in jeder Beziehung, denn "Im Nachtzug" erh?lt so einen geradezu anarchistisch-poetischen Stil, der f?r ein Leseerlebnis erster G?te sorgt. Besonders gegen Ende schleicht sich in die Gegenwartsebene des Romans eine merklich surreale Komponente ein, so dass "Im Nachtzug" auch Anh?nger des Schr?gen und Kuriosen vollends in Verz?ckung versetzen wird. Benno Hurt agiert so als regelrechter Wortzauberer, der S?tze und Worte mit beeindruckender Leichtigkeit nach seinem Willen formt, um Szenen und Bilder zu erschaffen, die jeden Leser noch lange Zeit begleiten werden. Ein bestechend verfasster und ein zeitloses Lebensgef?hl transportierender Roman, der auch anspruchsvollste Erwartungen erf?llen, sogar ?bertreffen wird.
Johannes Schaack
28.03.2011