Romane
Vom Gretchen zur Klassefrau
Im zweiten Band der Romantrilogie "Maria - Bilder und M?rchen f?r Erwachsene aus der Mitte des 20. Jahrhunderts" begleitet Werner Engelmann seine jugendliche Protagonistin auf ihrem Weg vom gretchenhaft-naiv erzogenen M?dchen zur intelligenten, selbstbewussten und attraktiven jungen Frau.
Getragen von ihrer Liebe zu M?rchen, in denen sich zutiefst menschliche Erfahrungen, Gef?hle und Sehns?chte verdichten, entdeckt Maria all das Sch?ne und Geheimnisvolle ihrer erwachenden Weiblichkeit. Zugleich wird sie sich aber auch des "Strampelhosenprinzips" bewusst, welches Kinder von Geburt an in Geschlechterrollen zwingt, M?nner bevorrechtet, Frauen jedoch mit dem widernat?rlichen Bild der reinen, jungfr?ulichen Mutter Gottes als s?ndhaft, schmutzig und befleckt erniedrigt.
"Boten aus der Fremde" helfen Maria, sich aus den Fesseln solch ?berkommener, patriarchalisch-religi?ser Moral zu befreien und ihr Frausein gleich einem Schatz als etwas Einzigartiges, Wertvolles zu entdecken. Das ehemalige Fl?chtlingsm?dchen lernt, die Unterdr?ckung der Frau und ihrer Sexualit?t in einem gr??eren Kontext zu verstehen und erkennt, dass hinter der Chim?re m?nnlicher ?berlegenheit nicht selten die blanke Angst vor souver?n gelebter Weiblichkeit steckt.
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Als eine der ungez?hlten Fl?chtlingsfamilien lebt Maria um 1955 mit ihrer Mutter und sechs Geschwistern in bescheidensten Verh?ltnissen. Ein Care-Paket aus Amerika, u. a. gef?llt mit Frauenkleidung, wird zur Initialz?ndung der Rebellion Marias gegen die streng katholische Mutter. Wie eine Lawine st?rzen Pubert?t, die erste Liebe zu dem schwarzen US-Soldaten Mike und ein nie dagewesener Umbruch von Wert- und Moralvorstellungen auf das M?dchen ein.
Maria entdeckt, wie atemberaubend sch?n es ist, ihren immer fraulicher werdenden K?rper durch fantasievolle Kleidung geschickt zu pr?sentieren statt ihn schamhaft zu verh?llen. Lippenstift und enge Hosen sind ihre Waffen im Kampf um Selbstverwirklichung und gegen die erdr?ckenden Lebensgrunds?tze der Mutter, die nach dem Tod des Vaters dessen beherrschende Rolle ?bernommen und verinnerlicht hat.
Das Zusammensein mit Mike weckt Marias Verlangen nach N?he, Liebe und Geborgenheit. Sie genie?t die Selbstverst?ndlichkeit, mit der er sie als achtenswerte, vollwertige Frau behandelt, sp?rt seine Ber?hrungen und ihren K?rper so intensiv wie nie zuvor.
Best?rkt wird Maria auch durch ihre Lehrerin Katharina, eine angehende Dominikanerin. Religi?se und kulturelle Bildung, Respekt vor der Sch?pfung, Gerechtigkeit, Menschenw?rde und die Befreiung der Frau sind Ziele dieser Ordensgemeinschaft. Ausgerechnet auf einer Klosterschule erf?hrt Maria so manches Geheimnis ?ber Sehnsucht, Liebe und Leidenschaft.
Die Gretchentrag?die aus Goethes "Faust" und Lessings Trauerspiel "Emilia Galotti" nutzt Katharina, um ihren Sch?lerinnen die ganze Tragik des Frauseins in Vergangenheit und Gegenwart zu verdeutlichen. Diese einzigartige Lehrerin wagt es, ?ber Priesterinnen in der katholischen Kirche nachzudenken. "S?nde" nennt sie "menschliche Schw?che", ja sie nimmt sogar Gretchen, eine Kindesm?rderin, in Schutz und zeigt die wahren Schuldigen an deren Verzweiflungstat.
Als Maria, gewandelt zur "Klassefrau", beschwingt zu Hause erscheint, eskaliert der Konflikt mit der Mutter. Doch Maria ist l?ngst kein "Gretchen" mehr. Entschlossen verwandelt sie sich in jene "wilde Boh?mienne", von der sie immer ?fter tr?umt und verl?sst, da sie keinen anderen Ausweg mehr sieht, Mutter und Geschwister.
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Es sind vor allem die mitrei?enden Dialoge, in denen Werner Engelmann Marias Weg vom kindlichen Gretchen zur selbstbewussten Klassefrau deutlich werden l?sst. Mit seiner lebendigen Darstellung der nach Selbstverwirklichung strebenden Maria gelingt dem Autor eine ?berw?ltigende Komposition aus geistiger Tiefe und Kompetenz, ergreifender Emotionalit?t und brennender Aktualit?t. Gefahren werden evident, die damals wie heute die Entfaltung souver?ner Weiblichkeit bedrohen: Burka und Schleier, Ehrenmorde, Genitalverst?mmelung, Steinigung, die grausame Justiz totalit?rer Religionen, das bewusste Sch?ren von Schuldgef?hlen und ?ngsten sind h?chst aktuelle Formen der Sch?ndung und Dem?tigung von Frauen weltweit.
Mit dem Aufgreifen der "Gretchentrag?die" relativiert der Autor die Schuld des historischen Gretchens und regt gleichzeitig zum Nachdenken dar?ber an, welch tiefsitzende ?ngste Frauen auch heute gemein sind, die ihr eigenes Kind t?ten - ?ngste, f?r die FAST IMMER Personen und Meinungen aus dem Umfeld (mit)verantwortlich sind.
"Die eigentliche Schuld f?r den Kindesmord kommt aber ihrer Umwelt zu." erkl?rt Katharina - und trifft damit die Achillesferse auch der aktuellen Rechtsprechung.
"Ihr aber sollt lernen, im Hier und Heute zu leben und zu euren eigenen Gef?hlen zu stehen!" Kann man besser zusammenfassen, was Sinn und Anliegen dieses gleicherma?en spannenden wie lehrreichen Werkes ist?
Mario Lichtenheldt
03.01.2011