Romane

Von der Rückkehr der Drachen

Der junge Viktor aus Moskau macht eines Abends eine merkwürdige Entdeckung: Ein Mädchen namens Tel liegt verwundet vor seiner Haustür. Da jegliche technische Gerätschaft in Viktors Haus ihren Dienst verweigert, können weder Polizei noch Krankenhaus gerufen werden. Stattdessen verfügt Tel selbst über wundersame Selbstheilungskräfte und ist nach einer Nacht bereits wieder voll bei Kräften. Am nächsten Morgen unternimmt sie mit Viktor einen Spaziergang, der nach einem turbulenten Zwischenfall in einer Parallelwelt endet: Willkommen in der Mittelwelt!

Der 1968 geborene Lukianenko ist der erfolgreichste russische Science-Fiction- und Fantasy-Autor der Gegenwart. Mit seiner "Wächter"-Trilogie wurde er weltweit ein gefeierter Star der Literaturszene. Deren Verfilmung war darüber hinaus ein Megaerfolg und brach insbesondere in Russland sämtliche Einspielrekorde. Im Zuge dieses durchbrechenden Erfolges werden nun zahlreiche Frühwerke Lukianenkos aufgelegt, die bisher weder auf dem deutschen Markt erschienen noch überhaupt übersetzt waren. Das vorliegende Buch war bereits 1997 in Russland unter dem Originaltitel "Ne wremja dlja drakonow" - übersetzt in etwa "Nicht die richtige Zeit für Drachen" - veröffentlicht worden. Sehr gute Zeiten für deutsche Lukianenko-Fans scheinen angebrochen zu sein!

"Drachenpfade" ist allerdings kein gänzlich Lukianenko zuzuschreibendes Werk, sondern eine Co-Produktion mit dem fünf Jahre älteren Nick Perumov, ebenfalls ein erfolgreicher russischer Science-Fiction- und Fantasy-Autor. Nichtsdestotrotz öffnen sich dem Leser schlagartig Parallelen zu weiteren Werken Lukianenkos - schickt er doch zum wiederholten Male seinen Protagonisten aus dem Hier und Jetzt in eine Parallelwelt. Die Mittelwelt existiert neben unserer Welt, der sogenannten Anderen Welt und der Welt der Angeborenen, die aus reiner Magie besteht, während die Mittelwelt sozusagen eine Mischung aus den beiden anderen ist. Klingt ein wenig kompliziert, ist es auch: Beim Lesen ergeben sich durchaus einige Anlaufschwierigkeiten für den Leser, da er erst ab der Hälfte des 640 Seiten schweren Romans beginnt, peu à peu die Zusammenhänge zu verstehen. Die eigentlichen Rollen und Absichten einiger Hauptdarsteller werden sogar erst auf den letzten 100 Seiten deutlich.

Viktor begegnet in der Mittelwelt allerlei komischen Gestalten wie Gnomen und Elfen, erhält von Tel aber nur wenig Aufklärung über seine Situation. Außerdem waren in der Mittelwelt vermutlich einst Drachen an der Macht, wohl steht auch die Rückkehr eines Drachen bevor. Ist Viktor etwa der Drachentöter, von dem überall die Rede ist? Neben dem Erzählstrang rund um Viktor und Tel werden einige mächtige Magier eingeführt: Ritor vom Clan der Luft, sein Erzfeind Torn vom Clan des Wassers und die listige Loj Iwer vom Katzenclan, deren gewaltiger Männerkonsum oftmals von einem sehr politischen Kalkül getrieben ist.

Der Leser tappt ob der Zusammenhänge der einzelnen Erzählstränge zunächst mindestens genauso im Dunkeln wie Viktor durch die Mittelwelt. Doch macht genau dies den Reiz des Buches aus, da es ein integraler Bestandteil von "Drachenpfade" ist, dass es keine frühzeitige Klassifizierung von Gut und Böse gibt. Lukianenko und Perumov betreiben mit ihren Charakteren keine Schwarz-Weiß-Malerei wie in vielen anderen Romanen diesen Genres. Auch widersetzt "Drachenpfade" sich einem in der Fantasy-Szene üblichen und für manchen Leser recht ärgerlichen Vorgehen, stets mehrbändige Werke auf den Markt zu werfen: "Drachenpfade" ist eigenständig und kennt weder Vorgänger noch Nachfolger.

Bei der Reise durch die Mittelwelt wäre es sicherlich hilfreich gewesen, für den Leser im Buch eine Karte jener Welt bereitzuhalten. Ebenso hätte eine Namensübersicht und Zugehörigkeit der einzelnen Magier zu den jeweiligen Clans die Einstiegshürde in das Buch gesenkt, stattdessen finden sich als einzige Zusatzinformationen spärliche und nicht unbedingt notwendige "Fußnoten" am Ende des Buches.

Alles in allem ist "Drachenpfade" ein für hiesige Verhältnisse ungewöhnliches Fantasy-Buch: Der Leser ergreift keine Partei, sondern wartet ab, wie sich die Geschichte entwickelt und wie sich die losen Enden zusammenfügen. Dass sie es am Ende tun, stimmt nachträglich glücklich und entschädigt mehr als ausreichend für die investierte Einarbeitungszeit, die auch der bisweilen ziemlich gestelzten Sprache der Autoren geschuldet ist.

Christoph Mahnel
25.01.2010

 
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Das Buch:

Sergej Lukianenko, Nick Perumov: Drachenpfade. Aus dem Russischen von Anja Freckmann

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München: Heyne Verlag 2009
640 S., € 19,95 Euro
ISBN: 978-3-453-26641-4

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