Romane
"Endstation" Flughafen
Flughäfen heftet von jeher ein Flair von Freiheit, Kosmopolitismus und Urlaub an. Wiedersehensfreude, Abschiedsschmerz oder Vorfreude auf die langersehnten freien Tage in der Sonne beherrschen die Stimmung an diesen Orten des Begegnens und der ständigen Betriebsamkeit. Dass es jedoch auch Tausende Menschen gibt, die täglich zum Flughafen fahren, aber nie abfliegen, sondern auf dem Boden bleiben und ihrer Arbeit nachgehen, um den Reisenden einen reibungslosen Ablauf zu gewähren, wird häufig übersehen. Annegret Helds neuer Roman "Fliegende Koffer" widmet sich genau dieser Gruppe von Menschen und beleuchtet schonungslos ihren Alltag.
Annette Heinz ist Mitte 40 und arbeitet als Flugsicherheitsassistentin im Schichtdienst. Sie und ihre Kollegen – Max, der Theologe, Kathrina, die ehemalige Stabsoffizierin und Frida, die Entwicklungshelferin – sind Niedriglöhner und kämpfen am Ende eines Monats immer wieder um den letzten Euro, mit dem sie sich nach der Arbeit noch einen Kaffee im Café Istanbul oder ein kühles Bier in der flughafeneigenen Schöffel-Schenke leisten können.
Nicht genug, dass Annette finanzielle Probleme hat und mit den Auswirkungen des permanenten Schichtdienstes zu kämpfen hat, plötzlich taucht auch noch die Liebe ihres Lebens, Simon, nach zehn Jahren wieder auf. Sie hatte ihn damals an eine andere Frau verloren, mit der er nun zwei Kinder und ein Haus hat – denkt Annette. Doch Simon, der nun auch noch ihr Vorgesetzter ist, wurde von seiner Frau verlassen und wirkt depressiv und verzweifelt. Auch wenn Annette eine zweite Chance wittert, ist sie sich nicht ganz sicher, ob sie Simon vertrauen kann und sich wieder in dieses Wechselbad der Gefühle begeben soll. Der ihr einst so vertraute Mann ist seltsam verändert – nicht nur die Nachwirkungen seiner gescheiterten Ehe zehren an ihm, sondern er zeigt eine nie gekannte Aggressivität und Vergesslichkeit. Annette muss feststellen, dass ihre ehemalige große Liebe in mehrerlei Hinsicht nicht mehr der Mann ist, den sie einmal geliebt hat.
Abgesehen von der facettenreich dargestellten, wiederaufkeimenden vergangenen Liebe ist die eintönige, zehrende Arbeit als Flugsicherheitsassistent das dominierende Thema in Annegret Helds neuem Roman. Aus eigener Erfahrung beschreibt Held, die auch schon als Polizei-Hauptwachtmeisterin Streife gefahren ist, ein Studium der Ethnologie und Kunstgeschichte absolviert hat, in einer Buchhandlung und bei einem Anwalt gearbeitet hat, das monotone Kontrollieren, Sonden und Durchsuchen der Flugsicherheitsassistenten, das trotz seiner Eintönigkeit bei jedem Fluggast aufs Neue mit Genauigkeit und Aufmerksamkeit durchgeführt werden muss. Held kehrt die aufgeregte Geschäftigkeit, die Internationalität und die ansonsten oftmals positive Flughafenatmosphäre ins Gegenteil, wenn sie damit den Arbeitsalltag ihrer Protagonistin beschreibt. Die angenehme Betriebsamkeit, die ein Passagier auf einem Flughafen erlebt, verwandelt Annegret Held in eine gehetzte Sprache, die den Flughafenmitarbeitern aus ihrer von Geldnot und Frustration geplagten Seele spricht – ein Buch über Randgruppen unserer Gesellschaft und wie sich ihre unterschiedlichen Lebenswege und Schicksale an einem an sich aufregenden und grenzenlose Freiheit suggerierenden Ort, einem Flughafen, in der Ausweglosigkeit begegnen.
Sabine Mahnel
09.02.2009