Romane

Der Vergangenheit auf der Spur

Nach dem Tod der betagten ledigen Dame Rosamond findet Gill im Haus ihrer Tante einen Stapel Fotos und vier besprochene Kassetten. Diese führen sie und ihre beiden Töchter auf eine Reise in die Familiengeschichte. Diese Vergangenheit wird in Jonathan Coes Roman "Der Regen, bevor er fällt" detailliert und liebevoll nachgezeichnet.

Mit der Absicht, Imogen, der verschwundenen Enkelin von Rosamonds Cousine Beatrix, zu erklären, wie es zu ihrer Erblindung kam, erzählt Rosamond ihr anhand von zwanzig ausgewählten Fotos die Lebens- und Leidensgeschichte der Familie. Rosamond beginnt mit ihrer ersten Begegnung mit Beatrix. Sie ist während des Kriegsgeschehens - gegen ihren Willen - auf das Land zu Verwandten gebracht worden. Dort erfährt Rosamond die Kälte ihrer Tante in ihrem Umgang mit Beatrix auch am eigenen Leib. Während die Jungs behütet und bemuttert werden, sollten die Mädchen eigentlich gar nicht existieren. Sie werden lediglich geduldet. Beatrix hat in ihrer Kindheit nie etwas anderes erfahren, als dass sie unerwünscht ist bzw. nie hätte geboren werden sollen.

Als Beatrix in jungen Jahren schwanger wird, zieht sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter Thea in eine viel zu kleine Wohnung. Doch auch diese Beziehung ist nicht sonderlich glücklich. Bedingt durch ihre Vergangenheit kann sie es nicht bewerkstelligen, ihrer Tochter ein Gefühl der Liebe und Geborgenheit zu vermitteln. Eines Tages fährt Beatrix zu Rosamond und deren Lebensgefährtin Rebecca, um Thea dort für kurze Zeit (höchstens für zwei Monate) abzugeben. Sie hat nämlich einen anderen Mann kennengelernt und folgt ihm nach Kanada. Doch tatsächlich bleibt Thea zwei Jahre bei dem Paar. Schließlich wird sie von ihrer Mutter wieder aufgenommen, die sie fortan als Lesbe beschimpft und für dumm hält. Und die Geschichte wiederholt sich: Theas Beziehung zu Beatrix ist genauso lieblos, wie es diejenige zwischen Beatrix und ihrer Mutter gewesen war.

Nach langen Jahren des Leidens lernt Thea eines Tages einen Mann kennen und bekommt schließlich ihre kleine, süße, unschuldige Tochter Imogen. Doch Thea leidet an unkontrollierbaren Wutausbrüchen und richtet diese gegen ihr eigenes Kind. Eines Tages führt einer dieser gefürchteten Anfälle dazu, dass Imogen ihr Augenlicht verliert und fortan ihr Leben im Dunklen fristen muss. Doch genau das ist für Imogen die einzige Chance, den Teufelskreis zu durchbrechen und ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. Denn aufgrund des "Vorfalls" kommt sie in eine neue Familie und erfährt Liebe und Zuneigung. Zudem "sieht" sie die Welt mit anderen Augen.

In diesem fein komponierten Roman werden Abgründe einer Familiengeschichte aufgezeigt, die teils schockierend (und leider trotzdem recht alltäglich) sind. Gill und ihre Familie erscheinen dabei nur als Randfiguren, als Beobachter. Imogen als Fix- und Angelpunkt der Geschichte tritt erst am Ende in das Geschehen. Durch die besprochenen Kassetten werden Bilder hergestellt, die eindrucksvoll und einprägend vor den Augen des Lesers stehen bleiben. Dabei ist die Sprache von einer liebevollen, geradezu zärtlichen Dimension, welche die unfassbaren Auswirkungen eines einzigen Moments scheinbar begreifbar machen. Das Buch macht deutlich, dass man in der Kindheit vor allem Liebe benötigt, um ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft werden zu können.

Susann Fleischer
19.01.2009

 
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Das Buch:

Jonathan Coe: Der Regen, bevor er fällt. Aus dem Englischen von Andreas Gressmann

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München: DVA 2009
304 S., € 18,95
ISBN: 978-3-421-04367-2

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