Romane

Das Wunder eines Romans, ein Lektüreerlebnis ohnegleichen

Antonius Diogenes verfasste einst, irgendwann zwischen dem 1. und 2. Jahrhundert, die Legende vom Wolkenkuckucksland, hat sie auf mehreren Tafeln festgehalten und zu einem wunderbaren Buch gebunden. Es erzählt die Geschichte von Aethon, dem einfältigen Schäfer, der mit seinem Leben nicht zufrieden war und mehr wollte, in einen Esel, einen Fisch und einen Vogel verwandelt wurde, um das Wolkenkuckucksland zu finden, wo alle glücklich sind, in den Flüssen Wein fließt und Schildkröten mit Honigkuchen beladen wandeln. Darüber stolpert 1440 in Konstantionopel die kleine Anna, 2020 führen es Kinder aus Idaho als Theaterstück auf und in einer unbestimmten Zukunft findet Konstanze Fragmente davon in der virtuellen Bibliothek eines Raumschiffs.

Im Mittelpunkt von "Wolkenkuckucksland" stehen Kinder an der Schwelle zum Erwachsenwerden, die sich in einer zerbrechenden Welt zurechtfinden müssen; Anna und Omeir während der Belagerung und Eroberung von Konstantinopel 1453, Seymour, der aus fehlgeleitetem Idealismus einen Anschlag auf eine Bibliothek im heutigen Idaho verübt, und Konstance im Raumschiff "Argos" in der Zukunft, auf dem Weg zu einem Exoplaneten. Was sie alle auf geheimnisvolle und geradezu atemberaubende Weise über Zeiten und Räume miteinander verbindet, ist eine Geschichte über ein utopisches Land in den Wolken. Sie haben so viel gemeinsam, aber auch einiges verschieden; sind Spiegel für das Leben ihrer Generation.

Vergangenheit: Wir begleiten mehrere Menschen auf mehreren Zeitebenen. So treffen wir den jungen Osmanen Omeir, der im Tross eines Heeres auf dem Weg nach Konstantinopel ist. Omeir hat ein wunderbares Talent mit Tieren umzugehen und hat sich aufgrund seines Schicksals schnell zu meinem Lieblingscharakter im Buch entwickelt. In Konstantinopel sitzt Anna, die sich so gar nicht mit dem ihr vorgegebenen Schicksal als Mädchen abfinden will. Mutig und suchend stürzt sie sich in die Welt und beschränkt sich dabei nicht auf das Krümel Leben, das ihr eigentlich zugestanden wurde.

Gegenwart: In unserer Zeitebene treffen wir den Jungen Seymour, dessen Mutter sich abrackert und der mit dem Lärm der Welt nur ganz schlecht umgehen kann. Seinen Trost findet er in der Natur, die in diesem Roman eine gewaltige Rolle spielt. Er sieht, wie der Mensch die Welt um sich zerstört und kann sich so gar nicht damit abfinden. Zeno wiederum, ein Veteran des Korea-Krieges, hat an seinen eigenen Selbstzweifeln zu kämpfen. Wie gerne würde er die geliebten griechischen Texte übersetzen, aber braucht es dafür nicht eine andere Art von Mann? Ist er dieser Aufgabe wirklich gewachsen?

Und Zukunft: Schließlich begleiten wir Konstance, die in ihrem Raumschiff durchs All fliegt. Einer Kapsel Erde gleich, die auf einem neuen erdähnlichen Planeten eine Kolonie gründen soll, fliegt sie mit ihren Mitreisenden durch Zeit und Raum - immer begleitet vom allgegenwärtigen Bordcomputer. Die katastrophalen Bedingungen auf der Erde zwingen sie dazu und doch kann sie von nichts Anderem träumen als der verlassenen Welt.

Anthony Doerr schreibt über menschliche Verbindungen - miteinander, mit der Natur, mit früheren und zukünftigen Generationen. Ihm gelingt es in diesem gleichzeitig wunderschön erzählten, außerordentlich spannenden und wirklich liebevollen Roman ins pulsierende Herz dieser Verwobenheit vorzudringen.

Unterhaltung mit der berauschenden, highmachenden Wirkung von Drogen - was man mit den Geschichten eines Anthony Doerr erfährt, ist alles andere als Mainstream-Entertainment, weit abseits von nullachtfünfzehn. Chapeau vor Doerrs Schreibkönnen! Dieses haut einen vom Hocker. Sein Talent übertrifft das seiner meisten Schriftstellerkollegen. Darüber hinaus fesselt es den Leser über viele, viele Stunden lang. Man liest "Wolkenkuckucksland" ohne (Atem-)Pause, außerdem mit heftig klopfendem Herzen und bekommt es nicht einmal mit, wenn eine Bombe neben einem explodiert. Solch ein Genuss hat absolute Seltenheit auf dem deutschen, gar internationalen Buchmarkt. Der US-Amerikaner ist wahrlich eine Koryphäe seines Fachs. Das zu toppen? Schier unmöglich!

"Wolkenkuckucksland" kommt dem ganz nah, was man den "großen amerikanischen Roman" nennt. Was man hier in die Hände bekommt, ist Literatur auf höchstem Niveau. Absolut beeindruckend und sogar überwältigend! Bei Anthony Doerrs grandiosem Erzählstil hätte es aber auch gerne das doppelte der Buchseiten sein dürfen. Was man hier erfährt, ist nämlich ein Lektüreerlebnis, das alles andere glatt in den Schatten stellt. Es gibt kaum etwas Genialeres im Bücherregal!

Susann Fleischer 
19.09.2022

 
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Das Buch:

Anthony Doerr: Wolkenkuckucksland. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

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München: Verlag C.H.Beck 2021 532 S., € 25,00 ISBN: 978-3-406-77431-7

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