Romane
In zwei Stunden durch den Bloomsday
Eigentlich war der 16. Juni 1904 ein schnöder Donnerstag wie jeder andere, als Leopold Bloom seine Wohnung verließ, um seinen Geschäften und Gedanken nachzugehen. Doch dank James Joyces Jahrhundertwerk "Ulysses" wurde dieser Tag zu einem Weltgedenktag der Literaturgeschichte. Im bedeutendsten Werk seines schriftstellerischen Schaffens dehnte der bedeutendste irische Schriftsteller die Erzählungen über seinen Protagonisten und dessen Erlebnisse an jenem Tag auf rund 1000 Seiten aus. In Anlehnung an die griechische Mythologie und den dortigen Helden Odysseus wird Leopold Bloom an diesem sagenumwobenen Tag durch die irische Hauptstadt getrieben und ist dort den Untiefen von Lust und Frust ausgesetzt.
Mitunter empfinden viele mit guten Vorsätzen ausgestattete, jedoch schon sehr bald erschöpfte Leser das Unterfangen, sich den "Ulysses" einzuverleiben, als allzu herausfordernd. Daher löste die Ankündigung, dass der österreichische Illustrator Nicolas Mahler eine Graphic Novel über den "Ulysses" produzieren würde, bei so manchem Gescheiterten die Hoffnung aus, nun doch noch in den Genuss dieses epochalen Werks kommen zu können. Leopold Blooms Odyssee durch den 16. Juni 1904 als Comic, besser und bequemer würde sich womöglich keine Weltliteratur zu Gemüte führen lassen. Doch sobald man das Buch aus dem Suhrkamp Verlag in Händen hält, ist man überrascht darüber, dass der Held dieser Graphic Novel zwar auf den Vornamen Leopold hört, jedoch den Nachnamen Wurmb trägt und in Wien beheimatet ist. Man schreibt zwar den 16. Juni 1904, doch spielen sich hier die Ereignisse in der österreichischen Hauptstadt ab und nicht auf der irischen Insel.
In der Tat hat sich Nicolas Mahler einige künstlerische Freiheiten gegönnt und die Handlung einigen Variationen unterworfen. Klar ist auch, dass es selbst die komprimierten Darstellungsmöglichkeiten eines Comics bzw. einer Graphic Novel nicht zulassen, solch ein Mammutwerk mit 1000 Seiten auf rund 280 gezeichnete Seiten projizieren zu können. Insofern waren Kürzungen sowie die Fokussierung auf einige zentrale Themen des "Ulysses" notwendig, um sich nicht zu verzetteln und nicht die beabsichtigte Kurzweil aus dem Auge zu verlieren. Mit Nicolas Mahler hat sich schließlich auch kein Anfänger an diesen anspruchsvollen Stoff gewagt, hat der Wiener doch schon einige Werke der Weltliteratur als Graphic Novels umgesetzt, beispielsweise Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften", dazu Werke von Marcel Proust und seinem Landsmann Thomas Bernhard.
Mahlers minimalistischer Zeichenstil beherrscht die vorliegende Graphic Novel. Wer glaubte, dass man fein akzentuierte Gesichtszüge benötigte, um Leopold Blooms Gefühlswelt adäquat darstellen zu können, den belehrt Mahler eines Besseren. Seine Strichmännchen mit den Knollennasen erinnern einen stark an das streitsüchtige Strichmännchen La Linea, dessen Kurzfilme früher in der ARD als erheiternde Pausenfüller liefen. Zwischendurch hat Mahler während seines Wiener Bloomsdays auch Tendenzen, ins Wahnsinnige abzudriften, wenn seitenweise ähnlich aufgebaute Zeichnungen auf den Betrachter einhämmern. Alles in allem ist die Form des "Ulysses" als Graphic Novel natürlich extrem zeitsparend, wenn man 1000 Seiten schwer verdauliche Weltliteratur in Comic-Form und in knapp zwei Stunden konsumieren kann.
Doch war Nicolas Mahlers Interpretation des "Ulysses" eigentlich weniger für Lesefaule gedacht, sondern vielmehr für dessen Kenner. Diese werden nämlich einen Heidenspaß daran haben, wie Mahler die Elemente des "Ulysses" umgesetzt und variiert hat. Blooms Angst vor der Untreue seiner Ehefrau, der rund ein Jahrzehnt zurückliegende Tod des eigenen Sohnes im Kindbett, der Trauerfall eines Freundes oder die eigene Triebhaftigkeit sind nur einige der Themen, die Mahler wirklich sehr minimalistisch und zugleich doch ausdrucksstark zu Papier gebracht hat. Als Höhepunkt hat der Illustrator schließlich das letzte Wort von Blooms Ehefrau im "Ulysses", ein "Ja" als Bestätigung von deren Liebe zu Leopold, zur Erheiterung des Lesers geschickt abgewandelt. In welches Wort, das sei allerdings an dieser Stelle nicht verraten, sondern findet sich in der wahrlich lesens- und immer wieder blätternswerten Graphic Novel.
Christoph Mahnel
05.10.2020