Romane
Eines der großen Lesehighlights 2020
Unglaubliches geschieht am 6. April '74: Die Popgruppe Abba gewinnt den Eurovision Song Contest und wird über Nacht weltberühmt. Für den 14,5-jährigen Ben Schneider und seine Freunde eine mittlere Katastrophe. Sie wittern Verrat: Ihre musikalischen Helden heißen Hendrix, Lennon und Dylan, in deren Songs es um Existenzielles, um Revolte, Drogen und Utopien geht. Ben leidet darunter, dass ihm fortan aus Hitparaden und Jugendclubs "Waterloo" entgegenschallt. Gegen die dörfliche Tristesse am Rande des Ruhrgebiets hilft Ben manchmal nur das Spiel auf einem alten Klavier, das neben dem Grundig-Musikschrank wie ein Fremdkörper wirkt. Oder er vertreibt sich auf der Kirmes seine Freizeit mit Autoscooterfahren sowie Annäherungsversuchen bei Susanna.
Ein elektrisierendes Alter in einer dörflich entschleunigten Zeit, die Ben und seine Freunde jedoch nicht vor den Tragödien des Lebens bewahrt. Denn wo steht geschrieben, wie man ein Mädchen das erste Mal küsst oder wie man verkraften soll, dass ein Klassenkamerad stirbt? Ben fühlt sich wie in einer wilden Achterbahnfahrt der Gefühle. Die Hormone spielen verrückt. Für ihn beginnt ein Sommer der stillen Revolte und der ersten Liebe. Alles könnte so leicht sein, aber das ist es nicht - denn das Herz funktioniert anders als der Verstand und das Unbehagen ist allgegenwärtig, schielt aus muffigen Partykellern und gepflegten Vorgärten und lässt sich nur gemeinsam ertragen - mit Freunden, exzessiver Musik und der Hoffnung auf rauschhafte Momente ...
Unterhaltung, die rockt wie kaum etwas anderes - Andreas Heidtmann, eigentlich Verleger des "poetenladens" und seit neuestem auch Schriftsteller, erweist sich als großes Talent im Erzählen von Geschichten. Was seiner Feder entstammt, ist ein Spaß der überraschenderen Sorte, und der so herrlich schön knallt wie ein Sektkorken. "Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde" ist der Sound, wo man mit muss. Die Story gibt das Lebensgefühl der 1974er Generation aufs Grandioseste wider. Man geht richtig mit, feiert Heidtmanns Erstlings regelrecht ab. Der deutsche Autor ist DIE Entdeckung des Bücherwinters 2019/20. Sein Können macht einen ganz schwindelig. Dieses ist absolut grandios, einfach nur der Kracher. Das geht ab wie eine Rakete!
Andreas Heidtmann schreibt Literatur, die einen ab dem ersten Satz ganz berauscht. Seine Romane machen richtig viel Fetz, sogar solch amüsantesten, dass man gar nichts anderes mehr lesen möchte. "Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde" ist ein Debüt mit großem Schmunzelfaktor. Von dieser Lektüre bekommt man einen Muskelkater über Tage/Wochen hinweg, außerdem ob all der Emotionen zwischen zwei Buchdeckeln ganz feuchte Augen. Ein schöneres Juwel findet man nur selten im Bücherregal. Danke dafür!
Susann Fleischer
02.03.2020