Romane

Literatur von der soghaften Erzählkraft eines Paolo Giordano oder Richard Powers

Kif Kehlmann ist ein junger, mittelloser Schriftsteller, der sich und seine Familie mit mehreren Nebenjobs mehr schlecht als recht über Wasser zu halten versucht. In wenigen Wochen wird er Vater von Zwillingen. Bis dahin will er eigentlich endlich sein erstes Buch veröffentlicht haben, aber der Roman macht kaum Fortschritte, verschimmelt mehr oder weniger in der Nachttischschublade. In der größten Verzweiflung eröffnet sich Kif eine Chance, die anfangs verlockend erscheint, aber schon bald zu einem Alptraum zu werden droht: Er soll die Memoiren des berühmtesten Kriminellen Australiens schreiben. Siegfried Heidl hat die Banken soeben um siebenhundert Millionen Dollar erleichtert und muss sich für dieses Verbrechen vor Gericht verantworten.

Ein Verlag sieht die Gunst der Stunde und will aus Heidls fünf Minuten Ruhm Profit schlagen. Bis zum Tag der Urteilsverkündung, also in nicht einmal zwei Monaten, soll das Manuskript auf dem Tisch des Verlegers liegen, ungeachtet der Tatsache, dass Kif mit seinem Leben überlastet genug ist. Wegen finanzieller Probleme willigt Kif, trotz des Zeitdrucks, ein, muss aber bald erkennen, dass diese Aufgabe überaus schwieriger ist als gedacht. Heidl ist nämlich nicht gewillt, Details aus seinem Leben preiszugeben. Aber ohne Details keine Biographie, und ohne Biographie kein Geld. Seine Hoffnung, irgendwann ein fertiges Buch in Händen zu halten, schwindet mehr und mehr. Um die Seiten mit Wörtern zu füllen, denkt Kif sich irgendwelche Erlebnisse aus.

Je näher der Abgabetermin rückt, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Heidl und ihm, zwischen Erfindung und Erinnerung, zwischen Leben und Lüge. Denn Heidl vereinnahmt die erfundenen Geschichten für sich. Betreibt er Sabotage an dem Buch - oder will er gar, dass Kifs Leben selbst sich ändert? Plötzlich gerät Kifs gesamte Existenz außer Kontrolle. Und es scheint für ihn kaum noch Rettung zu geben ...

Literatur, die so unfassbar gut und schön ist, dass es einen ab der ersten Seite glatt vom Hocker haut - Richard Flanagan kann schreiben, dass einem ganz schwindelig wird. Seine Romane sorgen für Leseeuphorie pur. Diese haben die berauschende Wirkung von Drogen. Deren Sogwirkung kann und will man sich für keinen Augenblick entziehen. "Der Erzähler" gehört zu den Highlights in jedem Bücherregal. Die Story verschlägt einem nicht nur den Atem, sondern auch die Sprache. Zwischen zwei Buchdeckeln steckt Lesegenuss, der (fast) alles andere in den Schatten zu stellen vermag. Die Geschichten aus der Feder des australischen Autors sind besonders wertvolle Juwelen in der Belletristik. Diese muss man unbedingt lesen, auch wenn die Welt untergehen sollte.

Richard Flanagans Erzählkunst ist absolut unwiderstehlich, außerdem so überwältigend wie die eines Paolo Giordano oder Richard Powers. Seinen Worten erliegt man nach nur wenigen Sätzen. Denn diese kommen einer betörend-schönen Verführung für alle Sinne gleich. "Der Erzähler" bedeutet Lesekino, das einen über viele, viele Stunden lang vollkommen gefangen nimmt. Hier erfährt man Unterhaltung zum Niederknien. Unvergleichlich grandios!

Susann Fleischer
10.12.2018

 
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Das Buch:

Richard Flanagan: Der Erzähler. Aus dem australischen Englisch von Eva Bonné

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München: Piper Verlag 2018
448 S., € 24,00
ISBN: 978-3-492-05898-8

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