Romane
"Vom Leben im Augenblick" - Gabriele Bönischs neuer Roman "Wasser auf meiner Haut"
Jedes Jahr fährt Gabriele zum Kneippen nach Bayern. Das vertraute Kurhotel nahe der märchenhaft schönen Alpen ist ihr zweites Zuhause geworden. Der ganze Alltag im Gepäck der berufstätigen Städterin prallt dort auf unberührte Natur, weite Landschaft und reine, frische Luft. Kurpark, Kräutergarten und Rosenbeete, Therapien, Speisesaal und anregende Bekanntschaften - die Kulisse für eine Handvoll Augenblicke des kleinen Glücks und der tiefen Zufriedenheit scheint perfekt. Und Gabriele ist begeistert von der Idee einer Vitalität bis ins hohe Alter. Sich frei und selbstbestimmt fühlen. Sich aus der Regungslosigkeit des Alltags befreien und Bewegung spüren. Das ist ihr Anliegen für den Aufenthalt in der vertrauten Umgebung, die sie aufblühen lässt.
Ihre immer näher rückende Pensionierung aber weckt viele Erinnerungen an ihr vergangenes Leben: Arbeiten und Lernen hieß die Devise, ob als Auszubildende oder Spätstudierende. Freiheit statt Gehorsam soll nun die Zukunft bringen. Leichtigkeit statt Druck. Auf die eigene Intuition hören und das starre Korsett eines Angestelltenverhältnisses hinter sich lassen. Sich vom Leistungsdruck eines großen Unternehmens befreien. Das Leben selbst in die Hand nehmen und gestalten.
Der Tag der offiziellen Verabschiedung aus dem Berufsleben kommt, doch der Weg von der Arbeit in den Ruhestand will freigeschaufelt sein. Langsam, Schritt für Schritt müssen Blockaden abgebaut, Rollen abgelegt werden. Das neue Leben will, einem Abenteuer gleich, erobert werden.
Insbesondere betroffen von der Umstellung: Gabrieles schriftstellerische Tätigkeit. Früher eine Hobbyautorin in der Freizeit, unentdeckt im Arbeitsalltag, beginnt für sie mit dem Neustart endlich das Leben einer Schriftstellerin. Erst jetzt lernt sie die Sinnlichkeit des Schreibens kennen. Auch in der Bibliothek des Kurhotels am Laptop. Auf Umwegen ist sie eine Schreibende geworden, und das, obwohl sie es schon immer wollte, es längst in ihrer Kindheit gespürt hatte. "Wenn ich einmal groß bin, werde ich alles aufschreiben", lautete damals ihr Versprechen.
Doch es hat alles seine Zeit, und nun lässt ihre schriftstellerische Tätigkeit keine Langeweile mehr aufkommen: Buchmessen, literarische Treffen, Lesungen, reisen und Menschen kennenlernen. "Was macht Ihr neuer Roman?" "Ich komme ... gut voran, ich habe ja jetzt auch mehr Zeit", freut sie sich.
"Wasser auf meiner Haut" überschreibt die Autorin das Kapitel ihres Lebens voller Rückblenden und Ausblicke. Offen in ihrer Art und kurzweilig im Stil offenbart sie sich als Meisterin des unmittelbaren Erzählens, ob beim Spaziergang, im Gespräch oder während sie ihre meditativen Bahnen im Kurschwimmbecken zieht: "Das Wasser war mein geduldiger Begleiter", gesteht sie. Auf seine beruhigende und stärkende Art kann sie sich verlassen. Das Wasser trägt sie durchs Leben mit all seinen Widrigkeiten und Überraschungen.
Auch in Ihrem nunmehr fünften Prosawerk legt die Autorin Gabriele Bönisch den Focus auf einen singulären weiblichen Lebenslauf und dessen aktuelle Lebenssituation und verknüpft die Gegenwart mit Ausschnitten aus der Vergangenheit. Das Spiel mit den Zeitebenen beherrscht sie wirklich gut. In oftmals zärtlichen und melancholischen Anekdoten beschreibt sie Träume und Sehnsüchte der Protagonistin. Träume, die in Erfüllung gehen. Sehnsüchte, die unerfüllt bleiben und zur Herausforderung werden. Ein Leben lang.
Wer Gabriele Bönischs Bücher aufschlägt darf sich auf einen ruhigen, konzentrierten Erzählfluß freuen, auf nachdenkliche Szenen und eine Literatur, die überwiegend von einem Blick ins Innere der Figuren lebt. Selbstreflexivität ist ein Merkmal des Charakters der gleichnamigen Protagonistin, die auch ihren Standort in der Lebensmitte, an der Schnittstelle eines neuen Lebensabschnitts, hinterfragt. Doch Gabriele Baumann ist keine ängstliche, zögerliche Figur, denn gerade der Aufenthalt in der Abgeschiedenheit der Bergwelt verschafft ihr Klarheit und ein Bewusstsein für den vor ihr liegenden Weg.
Bei aller Reflexion und differenzierter Betrachtung des Individuums zwischen den Ansprüchen der Arbeitswelt, in der ein Mensch zu funktionieren hat, und ureigenen, ganz subjektiven Bedürfnissen hat Gabriele Bönisch letztlich ein "Mutmach-Buch" geschrieben: das Leben und seine Veränderungen annehmen, auch wenn die Zukunft ungewiss ist. Es lohnt sich, diese Zukunft mit Plänen, Ideen und Vorhaben zu gestalten. Und die Zukunft wartet auf Gabriele Baumann kurz vor ihrer Abreise ganz spontan und überraschend an der Rezeption ihres Kurhotels.
Andreas Schneider M.A.
26.03.2018