Krimis & Thriller
Die Auferstehung von Ys
Ein doppelter Mord innerhalb weniger Stunden erschüttert den westlichsten Zipfel der Bretagne. Zunächst wird in den frühen Morgenstunden im Hafen von Douarnenez die Leiche einer Fischerin von der Île de Sein aus einem Container geborgen. Wenig später wird auf eben dieser Insel eine weitere Leiche geborgen; am Rande eines Friedhofs liegt die Leiche einer in der Gegend tätigen Delfinforscherin. Natürlich sind solche Verbrechen in dieser entlegenen Ecke Frankreichs ein Fall für Kommissar Dupin, den Pariser Ermittler, der mittlerweile in seinem bretonischen Exil angekommen ist. Natürlich trägt auch seine nun bei ihm wohnende Freundin Claire ihren Anteil dazu bei. Doch bei derartigen Verbrechen bleibt dem Kommissar keine Zeit, sich um seine Liebste oder auch seine Mutter zu kümmern, die beharrlich darauf besteht, dass ihr Sohn in zwei Tagen zu ihrem 75. Geburtstag in Paris auf der Matte steht.
Rasch ist klar, dass die beiden Mordfälle ein und demselben Täter zuzuordnen sind. Motive und Verdächtige gibt es allerhand, schließlich waren die beiden ermordeten Damen vielen einheimischen Platzhirschen ein Dorn im Auge, zuvorderst dem dringend Tatverdächtigen Großmogul Morin, der so viel Dreck am Stecken hat, dass man kaum weiß, an welcher Ecke man zuerst gegen ihn vorgehen sollte. Sind ihm die beiden befreundeten Frauen etwa wegen seiner illegalen Fangmethoden auf die Schliche gekommen? Doch warum hat die Chefin des Hafens von Douarnenez die Fischerin in den letzten Wochen beschatten lassen? Oder war es doch nur ein profanes Beziehungsdrama, da sich die beiden Toten in den vergangenen Monaten bei einem Fischer von der Île de Sein nicht nur die Klinke in die Hand gaben? Als wäre die Motivlage nicht schon komplex genug, muss Dupin schließlich noch einen dritten Mord in seiner Ermittlungsarbeit berücksichtigen.
"Bretonische Flut" ist der neueste und mittlerweile fünfte Bretagne-Krimi von Jean-Luc Bannalec und genau rechtzeitig zur Feriensaison 2016 erschienen. Noch immer hüllt sich der wahre Schöpfer dieser wunderbaren Bücher im Mantel der Anonymität. Jean-Luc Bannalec ist lediglich ein Pseudonym, unter dem der Autor bei Kiepenhauer & Witsch firmiert. Nach den ersten Mutmaßungen zum Debüt "Bretonische Verhältnisse" im Jahre 2012 haben die letzten Jahre keine neuen Erkenntnisse zur wahren Autorenschaft gebracht. Das Alter Ego Bannalecs produziert seitdem exakt im Jahrestakt ein neues Buch, wobei es ihm ganz hervorragend gelingt, immer wieder ein neues, für die Bretagne typisches Thema in den Mittelpunkt seiner Fälle zu stellen. Nach der Künstlerkolonie um Paul Gauguin, den malerischen Glénan-Inseln, der Salzgewinnung und der bretonische Mythologie stehen dieses Mal gleich mehrere Themen im Fokus.
Mit der Île de Sein ist eine raue und bemerkenswerte Insel der zentrale Schauplatz der Ereignisse, was einen sogleich an die wunderbare Darstellung der Glénan-Inseln in "Bretonische Brandung" erinnert, insbesondere auch Kommissar Dupin, der alles andere als seetauglich daherkommt und sich massiv überwinden muss, um seine Ermittlungen überhaupt vor Ort führen zu können. Darüber hinaus nimmt der maritime Naturpark Marin d’Iroise einen großen Raum im vorliegenden Roman ein, doch dominiert wird die Handlung von der möglichen Wiederauferstehung der geheimnisvollen Stadt Ys, einer Art bretonischem Atlantis, dessen Rückkehr von einem goldenen Kreuz angekündigt wird, ein solches, das die beiden ermordeten Frauen womöglich entdeckt haben und die Ursache für ihr Ableben sein könnte. Während Dupin auf solche Geschichten rein gar nichts gibt, sind seine in der Bretagne zutiefst verwurzelten Mitarbeiter völlig besessen von dieser Idee.
Bannalecs Erfolgsstory ist um ein weiteres Kapitel reicher, denn "Bretonische Flut" zeigt wieder einmal, wie breit der Ideenreichtum des Autors ist und keines der Bücher bisher einem Vorgänger ähnelte. Darüber hinaus ist dieses Mal die Handlung zur Ermittlungsarbeit des Kommissars von höchster Intensität geprägt. Dupin kennt kein Pardon mit sich und seinen Verdächtigen, so dass es ihm schlussendlich gelingt, den Fall innerhalb von zwei Tagen abzuschließen. Dieses Tempo überträgt sich auch auf den Leser, wenn er von diesem zeitlichen Rahmen der Geschichte getrieben wird, ständig weiterzulesen. Natürlich kommt auch "Bretonische Flut" einer weiteren Werbekampagne des bretonischen Fremdenverkehrsverbands gleich. Wer für dieses Jahr noch nicht das Finistère gebucht hat und dort seinen neuesten Dupin liest, wird dies eventuell im nächsten Jahr korrigieren, um unbedingt vor Ort den dann höchstwahrscheinlich pünktlich zur Reisesaison erscheinenden sechsten Fall zu genießen.
Christoph Mahnel
08.08.2016