Krimis & Thriller
Was ist wahr?
In der englischen Kleinstadt Malbry lebt die alleinerziehende Mutter Gloria Winter mit ihren drei S?hnen Nigel, Brendan und Benjamin. Ihre Erziehungsmethoden sind p?dagogisch mehr als zweifelhaft und von Kontrolle und Macht gezeichnet. Durch tragische Umst?nde kommen zwei ihrer S?hne ums Leben, wie auch einige andere nahestehende Personen im Umfeld der Familie. Ist der dritte Sohn etwa ein brutaler M?rder?
Die britische Schriftstellerin Joanne Harris ist einem breiten Publikum vor allem durch ihren Roman "Chocolat" bekannt geworden, der als Vorlage f?r die gleichnamige Verfilmung mit Johnny Depp und Juliette Binoche diente. Dass ihr neuestes Werk "Blaue Augen" jedoch in eine g?nzlich andere Richtung zielt und ?berhaupt nicht mit ihren vorherigen Werken vergleichbar ist, ehrt die ehemalige Lehrerin. Denn schlie?lich produzieren viele Schriftsteller ihr Leben lang Romane, die in nahezu ein und demselben Umfeld spielen und stets dasselbe Genre bedienen.
Mit der Einordnung des vorliegenden Werkes als Thriller durch den herausgebenden List Verlag mag allerdings nicht jeder Leser einverstanden sein, obgleich es in der Tat schwierig ist, ein passendes Genre f?r dieses au?ergew?hnliche und experimentelle Werk zu finden. Joanne Harris schreibt in "Blaue Augen" ausschlie?lich in Form eines Internetblogs. Auf "boesebuben" posten verschiedene Mitglieder dieser Web-Community ihre Beitr?ge und Kommentare. Letztlich sind es die beiden User "blauauge" und "Albertine", die ihre Geschichten mal ?ffentlich, mal eingeschr?nkt zum Besten geben.
Die Postings von "blauauge" sind nichts f?r schwache Nerven. Die d?stere Seelenlage, die Mordphantasien und beschriebenen Taten zeugen von einem sehr dunklen Charakter. Er ist der ?briggebliebene Sohn Gloria Winters und berichtet peu ? peu, wie es zu den bereits erw?hnten Todesf?llen kommen konnte. "Albertine" st??t im Verlaufe des Buches dazu und liefert mit ihrer Sicht auf die Vorf?lle eine neue Perspektive f?r den Leser. Als ehemalige Freundin von "blauauges" Bruder Nigel h?lt sie schlie?lich einige zus?tzliche Innenansichten bereit, die f?r die Meinungsbildung beim Leser von Bedeutung sind.
Es empfiehlt sich, als Leser einige Grundkenntnisse ?ber die virtuelle Welt zu besitzen, eine Ahnung davon zu haben, wie Blogs und Communitys funktionieren oder was der Unterschied zwischen privaten und ?ffentlichen Bereichen ist. Dar?ber hinaus fallen einige Fachbegriffe wie z. B. Avatar, ohne n?her erl?utert zu werden. Harris zielt mit dem vorliegenden Roman insbesondere auf die Gefahren der virtuellen Welt ab: Inwieweit k?nnen reale Menschen die Informationen und Erz?hlungen aus dem "world wide web" f?r bare M?nze nehmen? Das Alter Ego "blauauge" schildert im Internet freim?tig, wie er einen Mord nach den anderen begangen hat. Doch ist er tats?chlich auch im realen Leben als dieser M?rder unterwegs gewesen?
Sp?testens nach etwa zwei Dritteln des Buches wird der letzte Leser aus seiner Gutgl?ubigkeit geweckt, dann n?mlich, wenn Harris mit einer brutalen Kehrtwende den Leser vor den Kopf st??t und letzterer verzweifelt ein paar Seiten zur?ckbl?ttert, um wirklich zu verstehen, was er da gerade gelesen hat. In der Tat ist "Blaue Augen" kein Buch, das man oberfl?chlich lesen und verschlingen kann, es verlangt vom Leser vielmehr eine erh?hte Aufmerksamkeit, da wichtige Anmerkungen in schriftstellerischen Details versteckt sind, die ihre wahre Bedeutung erst sp?ter entfalten. Aufgrund der Tatsache, dass die Erz?hlung keine chronologische Linie verfolgt, sondern vom Hier und Jetzt zur?ck in verschiedene Phasen von Kindheit und Jugend der beiden Blogger springt, versetzt sie den Leser in die Rolle eines scharfen Beobachters, der alle m?glichen Informationen aufsaugt, um sich sein Bild zu machen und es immer wieder aufs Neue anzupassen.
Joanne Harris ist mit dem vorliegenden Buch ein Experiment gelungen, das jedem Leser noch lange in Erinnerung bleiben wird. Schlie?lich ist es aufgrund seiner Form der Erz?hlung beinahe schon als revolution?r zu bezeichnen. Auch wenn der Leser einige Zeit ben?tigt, um mit dieser unkonventionellen Konstruktion zurechtzukommen und sich in die Geschichte einzufinden, wird er gepackt vom Wechselspiel der beiden Protagonisten. Am Ende bleiben einige Fragen, f?r die der Leser garantiert das Buch nochmal in die Hand nehmen wird, um zu einigen relevanten Passagen zur?ckzubl?ttern. Auch ist "Blaue Augen" einer der seltenen Kandidaten f?r ein zweites Lesen, denn gerne w?rde man die Geschichte mit anderen Augen verfolgen, nachdem man von Joanne Harris doch die meiste Zeit im Dunkeln gelassen und m?chtig an der Nase herumgef?hrt worden ist.
Christoph Mahnel
18.04.2011