Krimis & Thriller
"Sie machen Jagd auf uns , Isabel. Wir sind ihre Beute."
Der erfolgreiche Geschäftsmann Alberto Hernán und seine Sekretärin Vera, die sichtlich mehr verbindet als ihre Anstellung in einem imposanten Büroturm eines ungenannten, internationalen Großkonzerns in Madrid, verbringen zusammen einen romantischen Abend. Wenig später verschwindet Hernán spurlos - der Leser erfährt nur noch, dass ein Anruf seiner Geliebten ihn dazu bringt, zu ihrem Wohnhaus zurückzukehren. Was Hernán dort allerdings vorfindet, erschüttert ihn bis ins Mark und der spanische Autor Enrique Cortés lässt den Leser vorerst nur seine eigenen Schlüsse ziehen, was sich abgespielt hat.
Davon, dass sie schließlich das Rätsel lösen wird, weiß die 30-jährige Isabel Alvarado, die im selben Stockwerk des Bürogebäudes wie Hernán und Vera arbeitet, eingangs noch nichts. Als zu Hernáns Verschwinden schließlich die Installation eines neuen, hochtechnisierten Sicherheitssystems im Büroturm und die schnell aufeinanderfolgende Versetzung zahlreicher ihrer Kollegen in höhere Stockwerke folgen, wird Isabel schließlich misstrauisch.
Als der junge Carlos, der im 21. Stock arbeitet und in den sich Isabel verliebt hat, brutal zusammengeschlagen wird, und ihrem behinderten Bruder Teo, der bei der für den Büroturm zuständigen Reinigungsfirma tätig ist, nachts im Turm ein bizarrer Albtraum widerfährt, wird Isabel und ihren wenigen Verbündeten letztendlich klar, dass sie einem schrecklichen Geheimnis auf der Spur sind. Als auch Isabel durch ihre Versetzung in das von vielen Gerüchten umrankte 26. Stockwerk in die dunklen Fänge des Konzerns gerät, fassen Carlos´ Freund Zac und der Inspektor Márquez den Entschluss, sich bei Nacht und Nebel in den "26. Stock" zu begeben.
Wer glaubte, es sei nicht möglich, über ein dermaßen alltägliches Thema wie den Gang ins Büro einen spannenden Thriller zu produzieren, den wird "Der 26. Stock" mit Sicherheit eines Besseren belehren. Obwohl das vorliegende Buch nicht ohne gewisse Thriller- und Kriminalromanklischees auskommt, gelingt es Cortez von Anfang an durch sein Talent für packende, temporeiche Dramaturgie eine oftmals beklemmende Spannung zu erzeugen, die den Leser beim Kragen packt und nicht mehr loslässt. Bemerkenswert erscheint auch, dass je weiter die Handlung fortschreitet, die Anzahl der Fantasy-Elemente stetig zunimmt, was "Der 26. Stock" auch für Fans fantastischer Literatur zur lohnenden Lektüre macht. Gegen Ende des Buchs erfährt der Leser zudem, dass Cortez sich nicht ohne Grund entschieden hat, seinen Roman durch ein Bibelzitat einzuleiten.
Mit seinem von zahlreichen überraschenden Wendungen geprägten Handlungsstrang und seinem teils aus verschiedenen Perspektiven beleuchteten, nicht immer streng chronologisch geordneten Erzählstil entpuppt sich "Der 26. Stock" zudem als nicht unkomplexes Werk. Schade nur, dass Cortez, was bestimmte Handlungsdetails angeht, den beim Leser unweigerlich entstehenden Erklärungsbedarf entweder gar nicht oder nur unzureichend befriedigt. Der zweite Teil des Buchs ist hiervon sichtlich mehr betroffen als der erste, was auch das Ende des Romans ein wenig unbefriedigender wirken lässt als sich mancher Leser wünschen mag.
Ebenso bedauernswert ist, dass der Übersetzung aus dem Spanischen bei der Lektorierung an manchen Stellen mehr Sorgfalt hätte zukommen können und Cortez´ Sozialkritik je weiter der Roman fortschreitet an Subtilität verliert. Für Leser, die gegenüber einer spannenden Verquickung der Genres Thriller und Fantasy aufgeschlossen sind, bleibt "Der 26. Stock" dennoch ein absolut heißer Tipp.
Johannes Schaack
03.05.2010