Krimis & Thriller

Venedig im pubertären Würgegriff

In Venedig sorgen sogenannte "Babygangs" für Unruhe, Gruppierungen von halbwüchsigen Teenagern verabreden sich spontan, geraten aneinander und sorgen in der Regel für Sachschaden, aber auch wechselweise für blaue Flecken bis hin zu Knochenbrüchen. Die venezianische Polizei wird zwangsläufig in diese Sinnlosigkeit pubertärer Testosteronausstöße hineingezogen, administrative Beschäftigungsmaßnahmen wie das Aufnehmen von Personalien und Übergaben in die Obhut der Eltern fallen hier mindestens an. Brunettis Kollegin Griffoni nimmt sich sogar des jungen Orlando, der seinen Vater zu nachtschlafender Zeit nicht erreichen kann, an und führt diesen sicher durch die Gassen Venedigs in sein Zuhause. Dass ihr diese gute Tat später noch auf die Füße fallen wird, kann sie da noch nicht erahnen. Doch eben dieser Vater wird in einem anderen Zusammenhang eine gewichtige Rolle im neuesten Fall von Commissario Guido Brunetti spielen.

Orlandos Vater war Anfang des Jahrtausends als Held durch die italienischen Medien gegeistert, nachdem er auf einem italienischen Militärstützpunkt nahe der irakischen Stadt Nasiriya bei einem hinterlistigen Anschlag das Leben von ein paar Kameraden gerettet und dafür sein eigenes aufs Spiel gesetzt hatte. Doch Recherchen bei Augenzeugen und Überlebenden ergeben ein etwas anderes Bild als dasjenige, das man den Menschen in Italien vor rund zwanzig Jahren hat glauben machen wollen. Brunetti und seine Kollegin befinden sich ohne triftigen Grund inmitten von gesellschaftlichen Abgründen, die für die beiden mit ihrem geerdeten Blick auf ein Miteinander nur schwer nachzuvollziehen sind.

"Feuerprobe" lautet der Titel des dreiunddreißigsten Falls für Guido Brunetti. Seine unermüdliche Schöpferin Donna Leon hat darin einen realen Vorfall im Irak einfließen lassen, bei dem eine Feuersbrunst mehrere Italiener getötet hatte, während andere scheinbar dank des beherzten Eingreifens von Dario Monforte, des "Helden von Nasiriya", überlebten. Seit mehr als drei Jahrzehnten liefert die in New Jersey geborene Schriftstellerin Jahr für Jahr einen neuen Brunetti-Roman ab und weiß dabei eine breite und treue Fangemeinde hinter sich. Der erste Fall "Venezianisches Finale" war hierzulande anno 1993 im Diogenes Verlag erschienen, auch heute noch verlegen die Zürcher die Brunetti-Romane in ihren eleganten weißen Büchern. Ein Ende scheint trotz des fortgeschrittenen Alters von Donna Leon nicht in Sicht. Doch bei einer Autorin, die im kommenden Herbst ihren 82. Geburtstag feiern wird, sollte man sich an jeder Neuerscheinung erfreuen.

Aus der Perspektive eines Kriminalromans plätschert der vorliegende Fall über weite Strecken vor sich hin, bis ein furioses Finale diesem Gesellschaftsroman die Krone aufsetzt. Tatsächlich haben Donna Leons Brunetti-Romane in den vergangenen dreißig Jahren eine Evolution durchlaufen. Konnten sie anfangs noch in der Rubrik "Kriminalromane" einsortiert werden, hat sich peu à peu Donna Leons Blick auf die Gesellschaft gepaart mit einer Frustration über viele Abläufe in Institutionen und Gesellschaften durchgesetzt und dominiert mittlerweile den Verlauf der Fälle. Sicherlich sind im Laufe der Jahre einige Leser abgesprungen, da ihre primäre Erwartungshaltung auf Kriminalfälle ausgerichtet war. Doch wer bereit war, die besagte Evolution mitzugehen, der genießt die herausragende Gabe Donna Leons, Menschen mit ganz viel Empathie beobachten zu können und diese Beobachtungen in die Geschichten einfließen zu lassen.

Donna Leon hatte bekanntlich von Anfang an darauf verzichtet, die in ihrer Muttersprache verfassten Brunetti-Romane ins Italienische übersetzen zu lassen, ja sich sogar explizit zusichern lassen, dass diese Lokalisierung unterbunden wird. Schließlich wollte sie in ihrer venezianischen Wahlheimat nicht als Nestbeschmutzerin gesehen werden. Mittlerweile hat sie allerdings Venedig den Rücken gekehrt und blickt mit wohltuendem Abstand aus ihrem neuen Domizil in der Schweiz auf den Schauplatz ihrer Romane. Der alterslose Brunetti verrichtet seine Arbeit trotz aller Widrigkeiten mit viel Feingefühl und hat stets die bedürftigen Menschen im Blick. Seine belesene Ehefrau Paola hat in "Feuerprobe" ausnahmsweise nur sehr wenige und kurz gehaltene Gastauftritte, weshalb davon auszugehen ist, dass dann im kommenden Jahr in Band 34 - wenn es denn dazu kommen sollte - wieder mehr Paola und mehr Familie enthalten sein wird.

Christoph Mahnel 
05.08.2024

 
Diese Rezension bookmarken:

Das Buch:

Donna Leon: Feuerprobe. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz

CMS_IMGTITLE[1]

Zürich: Diogenes Verlag 2024 336 S., € 26,00 ISBN: 978-3-257-07283-9

Diesen Titel

Logo von Amazon.de: Diesen Titel können Sie über diesen Link bei Amazon bestellen.