Krimis & Thriller

Die Selbstjustizministerin

Clara Lofthus ist gerade zur norwegischen Justizministerin ernannt worden, das Ergebnis der Karriere einer Frau, die buchstäblich über Leichen gegangen ist. Ihr Weg an die Spitze der Macht war keineswegs vorgezeichnet, eine schwierige Kindheit mit dem frühen Verlust von Lars, ihrem kleinen Bruder, fungierte als Ausgangspunkt für ein Leben, das wenig Platz für Gefühle ließ. Magne, den Freund ihrer Mutter und Peiniger von Lars, hatte sie bereits als Kind mit einem perfiden Plan um die Ecke gebracht. Später hatte sie ihr Leben dem Kampf gegen Kindesmisshandlungen verschrieben. Dabei war sie so weit gegangen, dass sie offensichtliche Kinderschänder in Selbstjustiz richtete. Im Zuge dessen hatte sie sogar ihren eigenen Ehemann und dessen Geliebte als Täter in Szene gesetzt. Doch als dies aufzufliegen drohte, brachte sie ihren Mann in einem See in eine derart prekäre Lage, so dass dieser dort bei einem scheinbar gut getarnten Unfall ertrank.

Schon am Tag ihrer Ernennung zur Ministerin wird Clara noch im Blitzlichtgewitter von einer Frau attackiert, die vorgibt zu wissen, was Clara getan habe. Doch vorerst schlägt sie die ihr von staatlicher Seite angebotenen Sicherheitsdienste aus. Beinahe zeitgleich wird Claras verhasste Mutter Agnes aus ihrem Heim, in dem sie die letzten dreißig Jahre verbracht hatte, entlassen. Als dann an einem Freitagabend Clara nach Hause kommt und ihre beiden Söhne dort nicht vorfindet, sondern stattdessen eindeutige Hinweise auf deren Entführung, wird ihr schlagartig klar, dass sie nun von den Verfehlungen ihres Lebens eingeholt wird. Rasch durchfliegt sie in Gedanken die nicht wenigen potentiellen Kandidaten, die auf Rache gesinnt sein könnten, und gelangt schließlich auf eine Fährte in ihre alte Heimat nach Westnorwegen. Ist es etwa wirklich das Werk ihrer Mutter, die sie auf diese Weise durch die Hölle schickt?

"Dunkler Abgrund" lautet der zweite Teil von Ruth Lillegravens Thriller-Trilogie um Clara Lofthus. Im ersten Teil, der hierzulande vor ziemlich genau drei Jahren auf den Markt gekommen war, hatten sich die besagten Vorfälle um Claras Ehemann und die mutmaßlichen Kinderschänder abgespielt. Mit dem inszenierten Unfalltod ihres Mannes war klar, dass Claras Geschichte noch nicht zu Ende erzählt sein kann. Zu viele ungeklärte Zusammenhänge und Vorgänge in ihrer Kindheit waren noch nicht annähernd aufbereitet worden. Mit dem Erscheinen des vorliegenden Buches war auch die Information gestreut worden, dass die Autorin für Clara Lofthus eine Trilogie vorgesehen hat. Denn obgleich dieser zweite Teil einen Abschluss rund um die Entführung von Claras Söhnen findet, sind weiterhin entscheidende Fragen offen. Der Leser ist dabei hin und her gerissen, weiß er doch nicht, was er der Protagonistin für den Rest ihres Lebens wünschen möchte.

Wie schon im ersten Teil hat Ruth Lillegraven eine äußere Form gewählt, die einen als Leser maximal bei der Stange hält und einen so nah wie möglich an die handelnden Charaktere heranführt. Mit 75 einzelnen Kapiteln bei knapp 400 Buchseiten ist klar, dass die Handlung recht stakkatoartig erzählt wird und viele Cliffhanger zum Einsatz kommen. Darüber hinaus erzählt die Autorin ausschließlich in der Ich-Form, unabhängig davon, welche Person gerade "im Lead" ist. Jedes Kapitel ist mit dem Namen der handelnden Person überschrieben, so dass man weiß, aus wessen Perspektive das nächste Kapitel geschildert wird. Anfangs ist die Erzählform noch recht gewöhnungsbedürftig, doch nach einigen Blickwechseln hat man sich damit angefreundet und weiß die Nähe zu den Charakteren sogar zu schätzen.

Bei aller Rasanz, die "Dunkler Abgrund" an den Tag legt, fragt man sich in den raren Momenten, in denen man es schafft, das Buch tatsächlich mal zur Seite zu legen, inwieweit die Handlung denn auch realistisch nachvollziehbar ist. Können Mütter so handeln, wie Agnes und auch Clara gehandelt haben? Womöglich schon, doch ist es heutzutage einer Ministerin in einem technisierten Land möglich, sich in einer Undercover-Aktion für mehrere Tage von der politischen Bildfläche abzuseilen? Bevor man zu einer Antwort auf die eigenen Selbstzweifel gelangt, hat man allerdings das Buch bereits wieder in die Hand genommen, da man weiter auf der wilden Achterbahnfahrt durch den Fjord reiten möchte. Die große Ernüchterung setzt schließlich ganz am Ende ein, wenn man realisiert, dass es eventuell wieder drei Jahre dauern wird, bis Ruth Lillegraven dann den Abschluss der Clara-Lofthus-Trilogie vorlegen wird.

Christoph Mahnel 
22.07.2024

 
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Das Buch:

Ruth Lillegraven: Dunkler Abgrund. Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob

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Berlin: List Verlag 2024 384 S., € 16,99 ISBN: 978-3-471-36049-1

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