Krimis & Thriller
Dreißig Jahre und ganz schön müde
Der Herbst hat Einzug gehalten in das Venedig Guido Brunettis. Auseinandersetzen muss sich der leidgeprüfte Commissario dieser Tage mit einem Fall, der äußerst seltsam anmutet. Zwei junge amerikanische Touristinnen wurden schwer verletzt vor einem Krankenhaus der Stadt abgelegt und damit grob fahrlässig ihrem weiteren Schicksal überlassen. Die Spur führt zu zwei jungen Männern, die mit den Frauen eine nächtliche Spritztour mit einem Boot unternommen hatten. Aufgrund einer Kollision waren alle Insassen mehr oder weniger in körperliche Mitleidenschaft gezogen worden. Doch warum die beiden Männer sich klammheimlich davongestohlen hatten, wird auch nach den ersten Vernehmungen nicht ersichtlich. Stattdessen gewinnt Brunetti den Eindruck, dass zumindest einer der beiden Männer eine viel größere Sache verheimlicht als die unterlassene Hilfeleistung an den Touristinnen.
Brunetti, der lebensbejahende Commissario mit dem guten Menschengespür, ist in die Jahre gekommen. Seine Kinder sind älter und erwachsen geworden, seine Frau und er wissen immer noch gute Gespräche, Essen und Trinken sowie anspruchsvolle Literatur zu schätzen. Dennoch merkt man dem stets inspirierten Gesetzeshüter an, wie sehr ihn sein Job und die menschlichen Untiefen, in die er seit dreißig Jahren blicken musste, zermürbt haben. So auch im aktuellen Fall, der lediglich das Entree bildet zu einer ganz niederträchtigen und menschenverachtenden Abscheulichkeit. Venedig als Stadt zwischen Land und Meer offenbart sich hier als Moloch für Menschenhandel im Schatten der Nacht und des offenen Meeres. Die Verschwiegenheit der venezianischen Bootsleute scheint für Brunetti undurchdringbar, so dass er sich mit weiblichem Charme an seiner Seite ausstatten muss, um bei den für die See zuständigen Institutionen voranzukommen.
"Flüchtiges Begehren" lautet der Titel des dreißigsten Romans von Donna Leon mit ihrem Commissario Guido Brunetti. Die Autorin wird sich ob dieser Erfolgsgeschichte sicherlich schon mehrfach gekniffen haben, um zu realisieren, wie gekonnt und grandios sie diesen Weg in den vergangenen drei Jahrzehnten beschritten hat. Im Jahre 1992 war mit "Venezianisches Finale" ihr erster Fall für Brunetti erschienen. Entstanden war die Idee hierfür in einem Gespräch mit einem befreundeten Dirigenten über einen unliebsamen Kollegen von diesem, worauf Donna Leon beschloss, letzteren sterben zu lassen, und zwar in einem Buch, in eben jenem Debütroman. In konsequenter Jahrestaktung hat sie nun 29 Nachfolgeromane jeweils zum Anfang des Sommers erscheinen lassen. Die deutsche Übersetzung kommt dabei stets in einem hochwertigen Produkt des Zürcher Diogenes Verlags daher. Italienische Übersetzungen hat die Autorin beharrlich untersagt, schließlich will sie nicht als Nestbeschmutzerin in ihrer zeitweiligen Heimat gelten.
Auch wenn die Romane gegenüber den ersten Fällen irgendwann den "Drive" als Krimi verloren haben, genießen es die Fans der Brunetti-Reihe Jahr für Jahr, wieder nach Hause kommen zu dürfen, an den exquisit gedeckten Tisch der Familie, zu den gewitzten Diskussionen dort zwischen Eltern und Kindern oder zu den geistreichen Gesprächen zwischen Guido und seiner Paola zu später Stunde. Diesen beiden hat Donna Leon mit Henry James oder den römischen und griechischen Klassikern einige ihrer Lieblingsschriftsteller und -bücher ans Herz gelegt, so dass die Brunettis aus deren Fundus Lebensweisheiten zum Besten geben und kontrovers diskutieren können. Erstaunlich ist, dass Donna Leon in "Flüchtiges Begehren" die aktuelle Corona-Situation zwar nicht explizit benennt, aber dennoch an mehreren Stellen unmissverständlich andeutet. Für gewöhnlich vermeidet sie aktuelle Themen und ist definitiv auch keine Anhängerin davon, gegenwärtigen Fortschritt oder technische Entwicklungen in ihre Plots zu integrieren.
Man bekommt als Leser im dreißigsten Fall Brunettis den Eindruck, dass die Autorin Anlauf nimmt, um ihre erfolgreiche Reihe einzufangen und ein mögliches Ende einzuleiten. Bedenkt man, dass Donna Leon im kommenden Jahr ihren achtzigsten Geburtstag feiern wird, ist es natürlich allzu verständlich, dass diese Reihe nicht unendlich fortgesetzt werden wird. In weiser Voraussicht - eine Eigenschaft, die Leon und Brunetti gleichermaßen für sich reklamieren dürfen - lässt die Autorin ihren Protagonisten im vorliegenden Buch bereits leise anklingen, wie er sich seinen Lebensabend vorstellen kann. Womöglich ist die starke Präsenz von Claudia Griffoni, Brunettis ermittelnder Partnerin, und einer weiteren Kollegin ein Indiz dafür, dass bei der venezianischen Polizei eine Wachablösung bevorsteht, die Donna Leon in naher Zukunft schriftstellerisch umzusetzen gedenkt. Ein einunddreißigster Fall ist allerdings laut Leon bereits im Entstehen, so dass Hoffnung besteht, dass sich das Ende Brunettis doch noch ein wenig hinauszögern könnte.
Christoph Mahnel
27.07.2021