Krimis & Thriller

Was "Die Ärzte" mit Sebastian Fitzek gemeinsam haben

Für Milan Berg kommen sie Hieroglyphen gleich, die Buchstaben auf dem Zettel, den ein verzweifelt erscheinendes Mädchen an die Fensterscheibe eines Autos hält. Milan steht an einer Ampel, neben ihm ein Wagen mit zwei Erwachsenen, mutmaßlich den Eltern, und einem jungen Mädchen, dessen flehentlicher Blick Milan berührt und sogleich in helle Aufregung versetzt. Was will ihm das Mädchen mitteilen, ist sein erster Gedanke, doch da braust das Auto schon davon. Milan ist Analphabet und nicht in der Lage, die Buchstaben zu entziffern. Er ist sich sicher, dass dieses Mädchen seine Hilfe benötigt und zwar dringend! Umgehend begibt er sich zusammen mit seiner Freundin Andra auf die Verfolgung. Doch garantiert wird diese Aktion seine aktuell sehr belastete Beziehung zu Andra auf eine harte Probe stellen, da Milan ein Meister der Verstellung ist und sogar seiner Freundin über Jahre hinweg verschwiegen hat, dass er des Lesens nicht mächtig ist.

Es beginnt eine rasante Irrfahrt durch den nordöstlichen Teil der Republik bis nach Rügen, wo der Showdown an den Stätten von Milans Kindheit stattfinden wird. Peu à peu werden Milan, sein Umfeld und auch der Leser über sehr aufrüttelnde Erkenntnisse aus Milans Vergangenheit in Kenntnis gesetzt. Was geschah einst mit Milans Mutter? Wie war Milan in den verhängnisvollen Brand in seinem Elternhaus involviert? Welche Rolle spielten seine erste große Liebe und deren Familie in diesem Zusammenhang? Kann Milan seiner aktuellen Freundin überhaupt trauen oder verfolgt diese ihre gänzlich eigene Agenda und benutzt Milan nur dafür? Fragen über Fragen, die Milan und dem Leser durch den Kopf schwirren, wenn die Protagonisten eine Verfolgungsjagd in dunkler Nacht vollführen, in denen eine brutale Szene die nächste jagt.

Wenige Einblicke in die Handlung genügen, um zu wissen, dass hier Sebastian Fitzek am Werk war und seinen neuesten Psychothriller veröffentlicht hat: "Das Geschenk" lautet der Titel in Anlehnung an eines der merkwürdigen Vorkommnisse in diesem Buch. Fitzek hat mit dem Erscheinen wenige Wochen vor Weihnachten wieder einmal ein perfektes Timing hingelegt. Die originell als Geschenk verpackte Buchausgabe eignet sich angesichts des Erfolgsautors und der hervorragenden funktionierenden Kaufmaschinerie zum Jahresende doch perfekt als Weihnachtsgeschenk für Spannungsliebhaber. Fitzek hat sich diesen Ruhm aber auch redlich verdient. Seit nunmehr 13 Jahren liefert er einen Bestseller nach dem anderen ab. Was mit "Die Therapie" anno 2006 begann, firmiert nun unter "Das Geschenk" als 16. Werk des Meisterautors, zumindest gemäß der Zählung, die nur diejenigen Werke berücksichtigt, die Fitzek alleine und unter seinem eigenen Namen herausgebracht hat.

"Das Geschenk" sorgt wieder einmal für eine Achterbahnfahrt mit vielen Twists in der Handlung. Wer Fitzek kennt, stellt sich natürlich schon darauf ein, dass man bei bestimmten Entwicklungen in der Handlung stets skeptisch und vorsichtig ist, ob man dies wirklich für bare Münze nehmen kann. Dieses Leseverhalten bei Fitzek-Kennern offenbart allerdings auch einen schwerwiegenden Aspekt von der Kehrseite der Medaille. Fitzek produziert seine spannungsgeladenen Geschichten nach einem zwar erfolgreichen, aber doch sehr standardisierten und immer wiederkehrenden Muster. Diese Vorgehensweise hat einerseits für unglaubliche Verkaufszahlen gesorgt, ist andererseits aber in die Jahre gekommen, so dass für Leser, die bei Schriftstellern eine gewisse Wandlungsfähigkeit schätzen, nach mehr als einem Jahrzehnt Fitzek nun das Ende der Straße erreicht ist. Um neue Wege und Geschichten genießen zu können, heißt es leider irgendwann einmal, Abschied vom Althergebrachten und einstmals Liebgewonnenen zu nehmen.

Unvorbelastete Fitzek-Novizen werden sich hingegen an der Rasanz von Fitzeks Schreibstil erfreuen und ziemlich atemlos durch die vielen kurzen Kapitel jagen. Der Autor überrascht nämlich immer wieder mit nicht vorhersehbaren Wendungen, die einem während der wenigen Pausen, die man beim Lesen einlegt, oftmals völlig unwirklich erscheinen. Fitzek wird ähnlich wie "Die Ärzte" seinen Stil mutmaßlich nicht mehr ändern und somit in einer bestimmten Zielgruppe, deren Zusammensetzung flüchtig ist, immer für Begeisterungsstürme sorgen. Dass Individuen sich weiterentwickeln und bei diesen irgendwann auch mal ein Sättigungsgrad erreicht ist, lässt Fitzek sowie besagte Berliner Band schlichtweg kalt. Eine Weiterentwicklung mit den Fans ist auf deren "Roadmap" nicht vorgesehen. Die Verkaufszahlen stimmen schließlich, also warum nicht?

Christoph Mahnel 
16.12.2019

 
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Das Buch:

Sebastian Fitzek: Das Geschenk

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München: Droemer Verlag 2019 368 S., € 22,99 ISBN: 978-3-426-28154-3

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