Krimis & Thriller

Ein glückseligmachendes Dahinplätschern

Die Frühlingsgefühle scheinen einen Freund von Commissario Brunettis Schwiegervater übermannt zu haben. Der Conte, ein Bewahrer von Traditionen und Etikette, hat im Laufe der Jahre seinen eher steifen und formalen Umgang mit seinem Schwiegersohn Guido deutlich entspannt, so dass er nun in der Lage ist, ihn über die prekäre Situation eines alten Freundes in Kenntnis zu setzen: Gonzalo Rodríguez de Tejeda, ein alter Schulfreund und Wegbegleiter des Conte, hat Gefallen gefunden an einem halb so alten Mann, den er zu adoptieren gedenkt. Gonzalos Familie, die über Generationen hinweg ein Imperium für Baskenmützen aufgezogen hat, ist darüber natürlich in heller Aufregung. Die Konsequenzen einer Adoption mit potentiellen Erbschlachten wären aus familiärer Sicht natürlich fatal. Brunetti wird von seinem Schwiegervater gebeten, sich ein Bild von der Situation zu machen.

Brunettis Sorgen gelten dieser Tage dem nahenden, mehrwöchigen Urlaub von Signora Elettra. Seine Frau für alle Fälle in der Questura muss er daher rasch einspannen, um noch adäquate Recherchen über Gonzalo und dessen Filou zu erhalten. Auch Patta hält Brunetti wie immer auf Trab, doch hat der Commissario für sich mittlerweile einen unaufgeregten Umgang mit dessen Sonderaufträgen gefunden, so dass ihn der selbstherrliche Vorgesetzte genauso wenig aus der Ruhe zu bringen vermag wie Tenente Scarpa, der als speichelleckender Karrierist Brunetti nur allzu gerne ins offene Messer laufen lässt. Doch ist es nach geraumer Zeit vorbei mit der frühlingshaften Unkompliziertheit, bis ein Mord die Stadt und Brunettis Familie erschüttert, so dass der Commissario doch noch gefordert ist, der Serenissima wieder Gerechtigkeit und die Moral zuzuführen.

"Ein Sohn ist uns gegeben" lautet der Titel des neuesten Romans aus der Feder von Donna Leon. Bei den alljährlichen Ankündigungen eines neuen Falles für Commissario Guido Brunetti werden immer wieder die Archive angefragt, um sich zurückzubesinnen, seit wann der sympathische Protagonist mitsamt seiner Familie dem Bücherjahr seinen Stempel aufdrückt. Anno 1992 war es bzw. ein Jahr später beim Erscheinen der ersten deutschen Übersetzung, dass Donna Leon und Guido Brunetti mit "Venezianisches Finale" die Bühne betraten. In Konsequenz bedeutet dies, dass mit dem mittlerweile 28. Roman dieser Reihe selbst Menschen, die sich bereits im fünften oder sechsten Lebensjahrzehnt befinden, schon ein halbes Leben lang von den Brunetti-Romanen begleitet werden. Es fällt einem schwer, aus dem Stegreif ähnlich geartete Erfolgsgeschichten der neuzeitlichen Belletristik zu benennen.

Glücklicherweise lässt die Autorin ihre Hauptdarsteller nicht in Echtzeit altern, da Brunetti ansonsten sicherlich schon eine Aufschiebung seines Renteneintritts hätte beantragen müssen. Zwar sind die Kinder von Guido und seiner großartigen Frau Paola älter und politisch mündiger geworden, doch dies in einem moderaten Tempo, so dass sich die Brunettis noch nicht um Enkelkinder kümmern müssen. Stattdessen bilden Abstecher in die altgriechische Literatur den belesenen Brunettis wie immer Ablenkung vom schnöden Arbeitsalltag. Bei Brunettis Vertiefungen in die Tragödien der alten Griechen spannt die Autorin gerne den Bogen ins Hier und Jetzt, indem sie Parallelen zwischen den scheinbaren Brutalitäten der Antike und dem gesellschaftlichen Verfall in der Gegenwart zieht.

Als Leser, der sich entweder seit Anfang der Neunziger Jahre der Gnade der frühen Geburt erfreut oder irgendwann dazwischen in die Reihe eingestiegen ist, kommt der Erscheinungstermin des neuesten Brunettis jedes Jahr im Frühsommer einem kleinen Freudenfest gleich. Schließlich stehen einem dann - abhängig vom eigenen Lesetempo - einige wenige oder mehrere Tage bevor, in denen man sich trotz der venezianischen Abgründe wieder zu Hause fühlt, am Tisch der Brunettis und in den Gedankengängen des integren Commissario. Auch wenn die Handlung in "Ein Sohn ist uns gegeben" über lange Zeit geräuschlos vor sich dahinplätschert und auch dieser achtundzwanzigste Brunetti-Roman nichts noch nie Dagewesenes in sich trägt, erfüllen einen die Stunden - mit dem haptisch ansprechenden Buch aus dem Diogenes Verlag in der Hand - mit Wärme und einem glückseligen Gefühl. Möge daher der Alterungsprozess bei Donna Leon, die dieses Jahr immerhin schon ihren 77. Geburtstag feiert, ähnlich langsam vonstattengehen wie bei ihren Protagonisten in der Lagunenstadt.

Christoph Mahnel 
22.07.2019

 
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Das Buch:

Donna Leon: Ein Sohn ist uns gegeben. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz

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Zürich: Diogenes Verlag 2019 320 S., € 24,00 ISBN: 978-3-257-07060-6

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