Gedichtbände
Popularisierung eines Poeten
Gedichte? Komm mir bloß nicht mit Gedichten! Was sind denn Gedichte, sagte der Enkel zur Großmutter. Sie zitierte Heines "Loreley". Ist doch wohl eher ein Lied, belehrte der Gymnasiast die Großmutter. Und Bob Dylan's Lieder sind was, fragte die kundige, schlagfertige Ältere? Gedichte kannste dir sparen. Bei uns kennt keiner Gedichte, sagte der 17jährige mit Gewissheit. Für wen also Gedichte, heute?
Gedichte waren nie Allgemeingut der Massen. Ausnahmen ausgenommen. Jene Gedichte, die, gleich Lippenbekenntnissen, im Deutschunterricht hergebetet werden. Und dann, im günstigsten Falle, nie vergessen. Die Lyrik ist das Steckenpferd einiger Germanisten und der hörigen Feuilletonisten, die ihnen folgen. Germanisten und Feuilletonisten fundamentieren den Sockel, auf den sie die gekürten Dichter hieven. Das war so! Das ist so! Das ist auch das Schicksal des Hans Magnus Enzensberger. Die germanistischen, feuilletonistischen Loblieder auf seine Lyrik übertreffen - an Zahl - bei weitem alles, was er in sein persönliches Poesie-Album eingetragen hat. Wollte, konnte, sollte sich der Dichter dagegen wehren? Weshalb? Manche Dichter, die älter werden, merzen aus, was sie nicht mehr aushalten von dem, was sie im Laufe der Jahrzehnte ablieferten. Hans Magnus Enzensberger, einer aus dem berühmten Jahrgang 1929, hat davon Gebrauch gemacht, eine akzeptable, akzeptierte Auswahl seiner Lyrik aus fünfeinhalb Jahrzehnten, 1950-2005, unters Volk zu bringen. Unter das Volk, das keine Gedichte liest? Das Volk, das seinen Enzensberger nicht zitiert? Das Volk, das sich mal die Mühe machen könnte, den Dichter Enzensberger kennen zu lernen? Unverkennbar hat die angebotene Taschenbuch-Ausgabe den populären Anspruch, den Poeten populärer zu machen im Volke.
Deklariert als "persönliche Auswahl", gibt der Verfasser den Leicht-Heiteren, der nichts auf die leichte Schulter nimmt und immer den erforderlichen Ernst bewahrt. Das ist sympathisch, weil sich der Poet nicht populistisch gebärdet. Unangestrengt, wie er sich gibt, ganz seine ganze schöne Seite zeigen. Der Lächler animiert zum Lächeln. Beschwingten Schrittes geht er voran und verführt zum beschleunigten Schritt. Gleichschritt ist ohnehin nicht erwünscht. Die Distanz zum Dichter, die die Leser halten, ist nicht die von Unmündig-Unwissenden. Es ist die der Erstaunten. In Erstaunen versetzt immerfort der Dichter, der versucht, Wort für Wort, in den Worten, mit den Worten, auf seine Weise mit der unfertigen, ungeformten, unwirtlichen Welt zurechtzukommen. Damit das Leben in dieser Welt - dann doch - lebenswert - liebenswert bleibt. Ungeachtet der unabänderlichen Tatsachen, das alles ist was und wie es ist, ein "Rätsel" ist. "Bis du begraben wirst", wie es im abschließend veröffentlichten Gedicht der Ausgabe heißt. Das Gedicht ist ein Erstdruck. Es erweckt den Eindruck, es ist ein Schlusspunkt.
Gemach! Der Dichter Hans Magnus Enzensberger hat sich als ein nimmermüder Gedichtemacher seiner Generation erwiesen. Ob er sich gewünscht hat, ein Dichter für's Auswendiglernen zu werden? Ein Dichter, der beim Volk ankommt? Enzensberger ist ein Dichter für's Lesenlernen. Ein Lesenlernen, das das Nachdenken nachsichzieht. Mit des Dichters Dichtung lebt nur gut, wer gut im Nachdenken ist. Das "dem Volk der Dichter und Denker" zumuten? Denen, denen Dichtung und Denken abhanden gekommen ist? Klar doch, damit die Deutschen kein Volk ohne Dichtung und Denken werden. Den Verlust zu verzögern, das macht auch der Dichter Hans Magnus Enzensberger möglich. Gott sei Dank!
Bernd Heimberger
01.12.2006