Erzählbände & Kurzprosa

Anspruchsvolle Thematik und inhaltlichen Dichte

Das Ende des Maya-Kalenders und die Botschaft des englischen Kornkreises prognostizieren für Dezember 2012 einen Weltuntergang, der nicht eintritt. Stattdessen beginnt eine neue Ära - die reale Apokalypse. Mit Super-GAU und Asteroideneinschlag, Umweltverschmutzung und Klimakollaps, hoher Arbeitslosigkeit und internationalen Finanzkrisen. Wie nie zuvor heißt es für den Menschen, sich angesichts der Veränderungen zu bewähren und stets sein Bestes zu geben, um mit der neuen Atemlosigkeit Schritt zu halten.

Religion bietet längst keinen Halt mehr; nach der Entdeckung eines neuen Gehirnzentrums, des sogenannten "Gottesmoduls", soll Glaube gar auf ein Denkmodell menschlicher Ratio reduziert werden. Die Seele wird fortan als sterblich erachtet, Todesfurcht und Verzweiflung zerstören die Hoffnung auf ein Jenseits.

Die Gesellschaft krankt an der Zeit: Internetsucht und digitale Überwachung, Couch-Tourismus und Kriminalität in der Medizin setzen dem von Stress und Gier zerfressenen modernen Menschen zu.

Ohne Umdenken und Befreiung aus den üblichen Mustern wird es keine Rettung geben, und so suchen Dalauns Romanfiguren eine Lösung in schöpferischem Ausgleich, sozialem Engagement und ursprünglichem Einklang mit der Natur. Man tanzt, komponiert, malt und fotografiert, dichtet oder beschäftigt sich mit dem Kosmos. Allen Beteiligten gemeinsam ist das Ziel, das einstmals selbstverständliche soziale Miteinander und Füreinander wiederzuerlangen. Nirgendwo zeichnet Dalaun dabei den Kontrast zwischen "Ist- und Soll-Zustand" schärfer als in den beiden Charakteren der berechnenden Geschäftsfrau Kitty und der intellektuell und zwischenmenschlich interessierten Kathrin.

Da erscheint mitten im farbenprächtigen Feuerwerk der Silvesternacht ein Zeichen am Himmel: ein Kreuz, von dessen Deutung die Perspektive für die Zukunft abhängt. Denn das geheimnisvolle Schauspiel mag sowohl Hoffnung auf Gottes Hilfe als auch Fingerzeig auf zu erwartende Gefahren bedeuten.

Dalaun vergleicht unser Leben entsprechend mit einem "Tanz", einem "Abenteuer". Hier zeigt die Autorin ihr ganzes Können im Umgang mit dem Stilmittel wiederkehrender Romanmotive, setzt ihre literarische Botschaft in den Aktivitäten einer Ballettgruppe oder in den Wesenszügen der mythisch-traumhaften Figur Echo um.

Ob wir wie die von Schicksalsschlägen strapazierte Tanzgruppe den Reigen unseres Lebens zu einem glücklichen Ende führen, wird sich zeigen. Die mutige Echo jedenfalls - sie tanzt bezeichnenderweise in der Natur - verkörpert eindeutig das verloren gegangene Vertrauen, nach dem sich der Mensch zurücksehnt. Echo weiß sicher, dass sie "das große Auge" dort oben nicht aus dem Blick lässt. Die Botschaft "Ich bin mit dir" hat für sie unverändert Gültigkeit. Wen wundert es, dass man mit dieser positiven Figur nur allzu gerne tauschen möchte. Ob Autorin oder Romanfigur - unterschiedslos lässt man sich auf Echo ein.

Die Figur des "Schlüssels" schließlich erfüllt Symbolfunktion im Romangeschehen. Der Spion ist einem Geheimnis auf der Spur ist, das es zu lüften gilt. Er mahnt zur Vorsicht, sucht exemplarisch die Ursache für Verhaltensänderung und Schädigung des Menschen in einem medizinischen Experiment skrupelloser Ärzte.

Auch die Autorin selbst ist auf der Hut. "Ich beschloss, es genau zu beobachten", verspricht sie dem Leser, entschlüsselt mit ihrem analytischen Roman Zeit und Psyche.

Dabei lässt sie uns auf fiktiver Ebene direkt am Schreibprozess teilhaben. Sie reflektiert und generiert, wird poetologisch in ihren Aussagen. "Jedes schöpferische Tun hilft bei der Problembewältigung. Was dem Maler die Farbe, dem Komponisten die Töne bedeuten, ist für den Schriftsteller das Wort …" Das Schreiben ist Dalauns eigener Beitrag, sich mit der neuen Ära auseinanderzusetzen, so, wie sich das Ballett dafür des Tanzes bedient.

Hinsichtlich einer solch komplexen, anspruchsvollen Thematik und inhaltlichen Dichte überrascht die selten klare Sprache des Romans, die den Lesefluss begünstigt und die zeitkritische bis visionäre Textintention ungehindert erkennen lässt.

Einen Roman wie Dalauns "Generalprobe" hat man lange nicht mehr gelesen. Fast ist es, als habe man auf ihn gewartet und genieße nun die wohltuende literarische Leistung, mit der die Autorin aufwartet.

Hugo Meyer
22.09.2014

 
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Das Buch:

Renate Dalaun: Generalprobe

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Frankfurt: August von Goethe Literaturverlag 2014
211 S., € 17,80
ISBN: 9783837214864

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