Erzählbände & Kurzprosa
Gesellschaftliche Tragödie zwischen der Alten und der Neuen Welt
20 Romane, 112 Novellen und zwölf Dramen hinterließ der amerikanische Schriftsteller Henry James bei seinem Tod im Jahre 1916. Den großen viktorianischen Erzähler kann man getrost als Weltbürger bezeichnen, denn er wurde zwar in New York geboren, pendelte jedoch viele Jahre zwischen Amerika und Europa hin und her, bis er sich 1876 in England niederließ. Die Erfahrungen, die er beim Pendeln zwischen den Kontinenten sowie der Kultur der Alten und der Neuen Welt machte, spielen in vielen seiner Romane und Erzählungen eine große Rolle. Auch die in diesem Jahr erstmals auf Deutsch erschienene Novelle "Überfahrt mit Dame" spielt sich buchstäblich "zwischen den Welten" ab.
In Boston besteigen vier Personen die "Patagonia", ein Schiff, das zwischen Boston und Liverpool verkehrt: Mrs. Nettlepoint, ihr Sohn Jasper, Grace Mavis und der Erzähler. Während der sechstägigen Überfahrt bei ruhigem und warmem Sommerwetter geht es auf der gemächlich über den Atlantik schippernden Patagonia alles andere als ruhig zu. Die feine Gesellschaft ist in hellem Aufruhr, da sich Grace nicht standesgemäß zu verhalten scheint. Sie ist nämlich auf dem Weg nach Liverpool, um dort ihren Verlobten zu treffen, den sie nun nach jahrelanger Verlobungszeit endlich heiraten soll. Jeder an Deck weiß, dass Grace eine vergebene Frau ist, umso brüskierter ist die feine Gesellschaft, als Grace beginnt, sich stundenlang mit Jasper, Mrs. Nettlepoints Sohn, zu unterhalten und Spaziergänge an Deck zu unternehmen. In dem unwahrscheinlich kleinen und fast hermetisch abgeriegelten Kosmos, den solch eine Schiffsgesellschaft während einer knapp einwöchigen Fahrt über den Atlantik darstellt, scheinen Grace Zweifel an der ihr bevorstehenden Vernunftehe zu kommen. Bei der Ankunft in Liverpool ist nur eines klar: Grace Mavis ist verschwunden.
Henry James ist meisterhaft, wenn es darum geht, in aller Breite und Tiefe ein Bild seiner Gesellschaft, nämlich der viktorianischen, zu zeichnen. In den für den heutigen Leser endlos und ergebnislos scheinenden Dialogen geht es einzig um die auf jeden Fall einzuhaltenden Anstandsregeln, die auf einem Schiff, auf dem es keine Unterhaltung gibt außer der, die man selbst verursacht, noch zehnmal strenger und vor allem strenger bewacht zu sein scheinen als an Land. Auf Grace Mavis hat die strenge Bewachung durch den immer präsenten Erzähler, der nicht nur Augenzeuge, sondern auch ein alter Freund von Jaspers Mutter und ein flüchtiger Bekannter von Graces Verlobtem ist, eine fatale Wirkung. Sie verschwindet nicht nur von der gesellschaftlichen Bühne, d.h. dem Deck des Schiffes, sondern auch von Bord – noch bevor die "Patagonia" angelegt hat.
"Überfahrt mit Dame" (englischer Originaltitel: "The Patagonia") ist der neueste Zuwachs in der Reihe von ungefähr fünf Dutzend Erzählungen von Henry James, die bisher in deutscher Übersetzung erschienen sind. Die Erzählung basiert auf einer wahren Begebenheit, die von James jedoch so weit verändert und abgeschwächt wurde, dass ihr eine Veröffentlichung nicht verwehrt bleiben konnte. Ein Zeitgenosse von Henry James, Anthony Trollope, hatte einst eine ähnliche Schiffserzählung, "Die Reise nach Panama", geschrieben, die James als Anregung für seine "Überfahrt mit Dame" diente. In der bibliophilen Ausgabe der James´schen Erzählung – hübscher Leineneinband, Lesebändchen, Banderole, mit Landkarte bedrucktes Vor- und Nachsatzpapier – finden sich im Anhang nicht nur ein Nachwort des Übersetzers, sondern auch eine Chronik, Anmerkungen zum Textverständnis und eben jene Erzählung von Trollope. Für Fans von Henry James, aber auch für diejenigen, die qualitativ hochwertige Bücher – sowohl inhaltlich als auch, was die Ausstattung betrifft – ist diese deutsche Erstausgabe der 1888 erschienenen Novelle ein echter Glücksfall.
Sabine Mahnel
08.04.2013