Erzählbände & Kurzprosa
Mit der Melodie der Melancholie
Etwas ist zu Ende. Eine Liebe, die erloschen ist, eine gute oder schlechte Zeit, die Menschen gemeinsam erlebt haben, oder das Leben einer Person, die jemandem nahestand oder die jemand kannte. Zsuzsa Bánks neuer Erzählband versammelt zwölf Geschichten die ebenso kurze wie lakonisch klingende Titel tragen: Letzter Sonntag, Larry, Lydia, Eiszeit und auch Heißester Sommer, der dem Buch seinen Namen gibt.
Es sind Alltagsgeschichten über Beziehungsverflechtungen, in denen sich etwas ändert, plötzlich oder leise angekündigt. Die Geschichten erzählen die Momente, in denen jene Änderungen aufscheinen, die Protagonisten sie bemerken und mit oft hilflosen Aktivitäten versuchen, den Gang der Dinge irgendwie in den Griff zu bekommen.
In der ersten Erzählung des Bandes, Letzter Sonntag, trifft Anna auf die Familie zu der sie 13 Jahre zuvor nach einem innigen Verhältnis den Kontakt verloren hat. Für einen Kongreß kommt sie zufällig in die Stadt zurück, in der jene Familie noch lebt. Es ist Marti, die damals kleine Tochter von Annas Freundin Zsóka, die sie am Ende ihres Vortrags zu einem Treffen drängt. Als sich Anna am nächsten Tag mit Zsóka, ihrem Mann und Marti trifft, reden sie über die vergangene, gemeinsam erlebte Zeit, bemerken an Gesten und Wortwendungen des Anderen, was noch wie früher ist. Und sie wissen doch alle, daß etwas zu Ende ist, etwas verloren ist. Von nun an schreiben sie Briefe, erzählen von ihrem Alltag, versuchen den Anderen teilhaben zu lassen an ihrer Welt bis plötzlich die Briefe von Zsóka und ihrer Familie aufhören und Anna zufällig erfährt, daß ihre Freundin an Brustkrebs erkrankt ist.
Auf nur 13 Seiten erzählt Bánks diese Geschichte. Vieles bleibt unbestimmt: Wie gestaltete sich die Beziehung zwischen Anna und Zsóka, der Familie? Warum ist es ausgerechnet Marti, die Anna zuletzt als achtjähriges Mädchen erlebt hat, welche die Freundin ihrer Mutter sehen will? Und warum ist der Kontakt irgendwann abgebrochen, wo doch das gemeinsame Erleben ihrer intensiven Sommer schon immer mit Reisemühen verbunden und selten war?
Diese Unbestimmtheit wird kontrastiert durch die Detailtreue in der Beschreibung von Handlungen, Gedanken und Gesten der Figuren. Mit der intensiven und zugleich unbestimmten Behandlung von Personen und Orten erreicht Bánk einmal, daß die Protagonisten alle der Leser selbst sein könnten. Vielmehr aber spiegeln sich in diesen Unbestimmtheiten gerade die fehlenden Erklärungen für Situationen, die in zwischenmenschlichen Beziehungen entstehen, deren Struktur sich ändert. Änderungen, die so massiv sind, daß der Betroffene nach Erklärungen sucht, suchen muß, um mit ihnen zu recht zu kommen. Für die es aber keine Erklärungen gibt, nicht in den Biographien der Beteiligten oder den konkreten Lebensumständen.
In "Eiszeit" besucht Carla ihre Jugendfreundin Becky in ihrem winterlichen Zuhause. Sie trifft auf eine normal kaputte, sprachlose Ehe mit drei Kindern, wie schon so oft bei ihren regelmäßigen Besuchen. Und zum erstenmal widert sie die Atmosphäre an. In "Lydia" erhält die Erzählerin nach Jahren überraschend die Einladung ihrer Jugendfreundin Lydia, sie in London zu besuchen. Die Freundin floh nach gemeinsam verlebter idyllischer Kindheit aus der Enge ihres gemeinsamen Heimatortes. Sie zögert, die Einladung anzunehmen, fährt doch und es gibt für sie nicht mehr zu sehen als die Oberfläche von Lydias Welt.
Zsuzsa Bánks Geschichten handeln vom Verlassenwerden, von Abschieden, von der verlorenen Nähe in Begegnungen oder der Suche nach Nähe, wenn es zu spät ist. Wollte man die Erzählungen unter dem Thema der verpaßten Chancen in Beziehungen lesen, dem Nachhängen von Erinnerungen, die nicht mehr auf die Gegenwart passen, so erfaßte man sicher das Gerüst der Erzählungen. Man würde aber die entscheidende Tonlage der "Melodie der Melancholie" in Zsuzsa Bánks Erzählungen überhören. Es ist die Komponente des Lakonischen in der Melodie, durch die bei aller Schwermut doch auch immer ein Wissen um die Unabänderlichkeit des Vergehens mitschwingt und so etwas von dem Vergangenen bewahren kann. Zsuzsa Bánk schafft es durch den Zauber ihrer Sprache davon aufscheinen zu lassen und schützt so ihre Protagonisten "Larry, Lydia und Lisa vor dem Verlorengehen in der Welt – und uns bei der langsamen Rückkehr vom Lesen ins Leben", wie es auf der Rückseite des Buches heißt.
Sascha Müller
09.10.2005