Erzählbände & Kurzprosa

Von Glückspilzen und anderen Überlebenskünstlern

In lebhaftem, angeregtem Plauderton erzählt Ilse Gräfin von Bredow Geschichten über ihre Altersgenossen. Hatte man bei "den Alten" bisher an eine weitgehend homogene Gruppe gedacht, so wird man hier eines Besseren belehrt. Denn: Was weiß ein 70-Jähriger schon über einen 90-Jährigen? Die Autorin zeichnet ein nuancenreiches Bild von der Erfahrungs- und Erlebniswelt der älteren Generation. Mal nachdenklich-melancholisch, mal bissig mit düsterem Unterton, bisweilen auch heiter bis Lachmuskel-strapazierend skizziert sie die Alten mit all ihren Gewohnheiten, Eigenheiten und Spleens.

Was alle verbindet, ist ihre frühe Lebensgeschichte, die von Krieg, Vertreibung und Flüchtlingselend geprägt ist. Und dieser Erinnerungsbogen schlägt weit in das gegenwärtige Leben hinein, färbt Entscheidungen, ruft erneut Entsetzen hervor, hält mitunter sogar gefangen. Deshalb auch der Untertitel "Überlebensgeschichten". Ja, sie haben überlebt, aber sie sind "abgefüllt mit Erinnerungen, für deren Aufarbeitung nach heutigen Maßstäben kaum ein Psychotherapeut gereicht hätte."

Da ist der Glückspilz, der ein etwas fragwürdig-paradoxes Glücksgefühl heraufbeschwört, das zum großen Teil mit dem Aufstieg der NSDAP einhergeht: Trommelschlagen, Wimpeltragen, Arbeitsdienst, Barras, EK1, das ihn scheinbar erst richtig zum begünstigten Glückspilz macht. Auch in Russland trifft ihn wieder das Glück in Form eines Steckschusses, der ihn nach Hause bringt. Dort bekrabbelt er sich wieder. Alt geworden, beschließt der Glückspilz dann, seinem Enkel das EK1 zu schenken. Auf dem Weg zu ihm erlebt er eine Prügelei unter Skinheads und löst einen arg Geschundenen mit seinem EK1 aus. Ein Kreis schließt sich, übrig bleiben schöne Erinnerungen an die früheste Kindheit. Ilse von Bredow rührt in jeder ihrer Geschichten an diesen ewig wunden Punkt - mit viel Humor. 

Freimütig und respektlos geht sie auch andere Schwachstellen "ihrer" Alten an. Etwa das Ehepaar, das der Spielleidenschaft frönt, sei es Mensch-ärgere-dich-nicht, Kreuzworträtsel, Roulette, und seine putzwillige, fleißige Haushaltshilfe umkrempelt, bis sie freudig den Haushalt sein lässt und sich dem liederlichen Leben ihrer beiden lebenslustigen, Rotwein süffelnden Arbeitgeber anschließt. Warum denn nicht mal so herum?

Es gibt den sturen, lieblosen Alten, der von anderen Hingabe erwartet - sei es von der Nichte oder seinem Hund - aber nichts zu geben bereit ist. Einsam beklagt er sein Los als eines von der Welt Betrogenen. Auch diese Seite des Alters ist mit viel Biss beschrieben.

Und dann sind da noch die beiden alten Damen, die, sich gegenseitig Reime abhörend, dem Schicksal ihrer Freundin zu entfliehen versuchen, die in einem Pflegeheim für geistig Verwirrte gelandet ist, um dort in einem kleinen Winkel ihres Lebens, BDM und Arbeitsdienst, letzte glückliche Zuflucht zu nehmen. Aber: "Sie hat sich halt im Gedächtnis ein Plätzchen aufbewahrt, wo sie mit sich und der Welt besonders im Reinen war ... Was wissen wir schon." Diese Erkenntnis nimmt eine große Last von den beiden.

Zur Genüge kennen wir bereits das Bild des von der Familie vergessenen Alten, der, das faule Pack stets entschuldigend, sehnsüchtig auf dessen Besuch wartet. In "Es wird alles gut" fühlt sich, umgekehrt, der Vater von der überfürsorglichen Tochter bis zur Belästigung verfolgt und nur Fluchtpläne bringen den 82-Jährigen wieder ins Gleichgewicht.
Der Gedankenaustausch zweier Jugendlicher über ihre Oma-Erfahrungen, zum Teil bewundernd-verständnisvoll, zum Teil rotzig-frech, zerrt durch seine Schnoddrigkeit gehörig an den Lachmuskeln.

Wohltuend offen, weder die Zipperlein des Alters aussparend, noch ihre Macken verbergend, signalisiert uns Ilse von Bredow aber vor allem eins: Schaut her! Der Lack geht ab, aber wir haben trotzdem noch so manches Ass im Ärmel.

rok
24.05.2002

 
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Das Buch:

Ilse Gräfin von Bredow: Der Glückspilz und andere Überlebensgeschichten

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Bern/München/Wien: Scherz Verlag 2002
207 S., € 18,90
ISBN: 3-502-11084-0

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