Erzählbände & Kurzprosa

Ein anderer sein: Surreale Szenerie einer Flucht ins Nichts

"Die Sehnsucht, anders zu sein, als man ist: eine schmerzlichere Sehnsucht k?nnte im Herzen nicht brennen." Dieser Satz aus dem Roman Die Glut von S?ndor M?rai hat wohl in Daniel Kehlmanns neuem Buch Der fernste Ort Pate gestanden, denn wir tauchen wie selbstverst?ndlich in die Geschichte eines jungen Mannes namens Julian ein, der eben dieses versucht: Ein anderer sein, eine zweite Chance, ein neues Leben. Einleuchtende Gr?nde glaubt er zu haben: Schulden bei der Bank, seine Beziehung am Ende, seine T?tigkeit als Versicherungsangestellter belastend, sein bisheriges Leben sowieso. Und so nutzt er einen Schwimmunfall w?hrend einer Versicherungstagung, die in einer malerischen italienischen Landschaft stattfindet: er schwimmt auf den nahegelegenen See hinaus und droht zu ertrinken. Sp?ter findet er sich am anderen Ufer wieder, ohne jedoch zu wissen, wie er dort hingekommen ist. Ein neues Leben beginnen, aber wie?

Das bisherige Leben muss erst einmal wie eine alte Socke verschwinden, denn alle m?ssen denken, er sei tats?chlich ertrunken, und schlie?lich braucht er eine neue Identit?t. Doch w?hrend er seine Spuren verwischt, wird das vergangene Leben noch einmal durchschritten. So geht das alte, aber wo kann nur das andere, das neue Leben sein? Julian hofft es schlie?lich im "Nordosten" zu finden. "Angeblich verschwindet man dort am leichtesten", sagt er. Und so verd?nnisiert sich das andere Leben, ehe es begonnen hat, immer unwirklicher wird dabei seine Wirklichkeit, verschiedene Wirklichkeiten schieben sich ineinander, bis die Ahnung zur schrecklichen Gewissheit wird: diese Reise ist in Wahrheit eine Flucht ?berhaupt aus dem Leben. Eine Reise ins Nichts. Was, wenn Julian nun tats?chlich ertrunken ist, seine Seele herumirrt und noch einmal alles durchlebt? "Ein Wanderer, der langsam und ohne Ungeduld seinen Weg durch eine winterliche Landschaft sucht. Doch w?hrend er geht, f?hlt er die Luft um sich zu ?lfarbe gerinnen, und er sieht die Berge und den Himmel und vielleicht die K?stenlinie eines fernen Meeres in ein Gem?lde erstarren, von dem er selbst nur ein leicht zu ?bersehender Teil ist, und pl?tzlich begreift er, und damit erst hat sein Weg sich geschlossen." Und so wird Julian am Ende sagen: "Ich wei?."

Daniel Kehlmann hat mit dieser Novelle einmal mehr gezeigt, dass er intelligente und gleichzeitig unterhaltsame Geschichten schreiben kann. Der fernste Ort besticht durch seine knappe, bildhafte Erz?hlweise. Das traumgleiche Abtriften seines Protagonisten wird in einer surrealen Szenerie gekonnt durchgespielt, Spannung bis zur letzten Seite wird mitgeliefert.

Fra
18.05.2002

 
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Das Buch:

Daniel Kehlmann: Der fernste Ort

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Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001
148 S., € 17,80
ISBN: 3-518-41265-5

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