Briefliteratur & Tagebuch

Unangepaßter Unmündiger

Die proletarisch-umgangssprachliche Mundart war dem Einar Schleef nichts Verpöntes. "Mammut-schinken" nannte er sein wachsendes, wucherndes "Tagebuch". Siegfried Unseld, sein Verleger, stöhnte innerlich und mochte ans Veröffentlichen nicht denken. Der Mammuntschinken wurde nicht vergessen. Nach dem Tode des Autors wie des Verlegers machte sich der Suhrkamp Verlag daran, das Tagebuch des Theatermannes zu publizieren. Das war ein Gewaltakt, das Mammut zum Laufen zu bringen. Die nunmehr fünfbändige Tagebuch-Ausgabe ist keine beliebige Lektüre fürs vergnügliche Lesen. In der Gesamtheit ist das, was der vielseitige Künstler Einar Schleef (1944-2001) zusammenfasste, ein bitteres Lehrstück über das Leben eines Bedrohten.

"Über wen schreiben, wenn nicht über mich", stellte er nahezu wortgleich wiederholt fest. So auch in den beiden abschließend edierten Tagebuch-Bänden. Im Umfang fast identisch, addiert der Band 4 die Jahre von 1981 bis 1998 und der Band 5 die Jahre 1999 bis 2001. Das muss stutzig machen. Auch als Tagebuch-Verfasser war Schleef keiner der konservativ-konsequenten Aufschreiber des Täglichen wie der disziplinierte Stilist Thomas Mann. Über sich zu schreiben bedeutete, über den Jungen aus Sangerhausen zu schreiben, sobald er schreiben musste. Das war in den fünf Jahren nicht zwingend nötig, als der Regisseur in Frankfurt am Main arbeitete, um dann zehn Jahre zu brauchen, sich von Frankfurt wieder zu lösen. Was nicht sagt, dass der 4. Band unergiebig ist. Doch das, was den Aufzeichner ausmacht, was aus der Unmittelbarkeit, der Authenzität der Tages-Notizen kommt, fehlt. Die in den Kommentaren reflektierten Lebenssituationen, Arbeitsauseinandersetzungen, Werkabsichten bleiben das Persönlich-Private, das sich außenstehenden Lesern nur schwer vermitteln lässt. Prinzipiell ist das Persönlich-Private das Eigentlich-Substanzielle des gesamten Tagebuchs.

In den erweiternden, ergänzenden Rückbetrachtungen zu den Tagesnotizen sagt der Stotterer Schleef: "(...) hier lernt jemand sprechen." Er hat die Außenwelt zur Aussprache eingeladen, indem er sein Sein als das eines lebenslang Unmündigen darstellte, der die Leser mündig machen wollte für das Leben. Schleefs Tagebuch-Prosa ist ein permanentes, offenes psychotherapeutisches Traktat. Ein trotziges, abgetrotztes Traktat. Eines, das schonungslos sein musste und auch nicht die schont, die sich zu Lebzeiten mit Schleef beschäftigten und sich im Nachhinein mit ihm beschäftigten werden. Also mit Texten, über die ihr Verfasser sagte: "Sicher, beim Schreiben stottere ich auch."

Selten hat Schleef so wenig "gestottert" wie im letzten Lebensjahr. "Den Vorgang des Eintritts in den Tod habe ich erlebt", ist im Eintrag vom 20. Januar 2001 zu lesen. Zwei Tage zuvor, so ist zu erfahren, war es zu einem Herzstillstand gekommen. Und wenig später heißt es: "(...) irgendwie ist Ende angesagt, nur wie, reicht die Kraft noch bis dahin?" Einar Schleef wollte noch nicht sterben. Die Verblüffung, die Betroffenheit nach seinem Tod war so wenig aufrichtig wie das Verhalten gegenüber Einar Schleef. Sein Tagebuch der letzten Zeit ist die Chronik eines angekündigten Todes. Des eigenen Todes, der Traurigkeit der bewussten Sterblichkeit: dem Thema seiner Tage.

Einar Schleef, 1944 in Deutschland geboren, 1976 aus dem östlichen Berlin in das westliche Berlin gegangen, war ein Fremder. Im Osten wie im Westen. In der Welt. In der Zeit. Ein Unangepasster, Unanpassbarer. Ein Individuum, das um den Wert seiner Individualität wusste wie um die Last des Wertes. Eingeschlossen in der DDR, fühlte er sich als Ausgeschlossener. Als Teil des deutschsprachigen Theaters, stand er eher vor verschlossenen denn geöffneten Theaterbühnen. „Das Berliner Ensemble stellte mich kalt, egal, wer auf dem Thron saß, auch nach der Wende“, formulierte der Einsame und erklärte seine Situation mit den Worten: "(...) instinktiv gehöre ich nicht der Theaterpartei an". Parteilos, war er parteiisch in seiner Anteilnahme am Theater.

Individualistisch, war er nicht ohne Sinn für das Gemeinschaftliche, das seine Zweifel an jeglicher Gemeinsamkeit nährte. Oft verletzt, verletzte er oft. Wissend, dass Schleef vier Kinder mit vier Frauen hatte, ist diese private Wirklichkeit nahezu völlig abwesend im Tagebuch. Unpolitisch, war der Künstler einer der Politischsten seiner Zunft seiner Zeit. In allem Schreiben über sich selbst, war er ein Beschreiber der äußeren Situationen, mit denen er fortwährend kollidierte. In der DDR wehrte er sich gegen die DDR und bestritt ihr Existenzrecht. Jenseits der DDR, schrieb er sich an die DDR heran, die sein "künstlerisches Zuhause" war. In Deutschland war er ein Fremder in der Fremde. Als der konnte er wahrnehmen, was so niemand wahrnahm. Im April 2000 schrieb Einar Schleef: "Sitzt Frau Merkel auf dem Thron, fragt sich, wer wen aufgefressen?"

Was hat Schleef zerfressen. Schleef den Schleef? Die Geschichte die Person? Die Umstände den Menschen? So eindeutig der Künstler in vielem war, eine eindeutige Antwort ist ausgeschlossen. Eindeutig ist, dass das Tagebuch von Einar Schleef eine Chronik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist, die dem 21. Jahrhundert helfen kann, deutsche, deutsch-deutsche Geschichte verständlicher zu machen als Politiker, Ökonomen, Soziologen, Historiker das können. Das Tagebuch ist die einzigartigste Leistung des Einar Schleef, wie es eine Leistung des Verlages ist, die vollständige Tagebuch-Sammlung zu veröffentlichen.

Bernd Heimberger
14.12.2009

 
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Das Buch:

Winfried Menninghaus, Sandra Janßen, Johannes Windrich (Hg.): Einar Schleef. Tagebuch 1981-1998. Frankfurt am Main – Westberlin

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Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2009
462 S., € 30,00
ISBN: 978-3-518-42069-0

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Winfried Menninghaus, Sandra Jan?en, Johannes Windrich (Hg.): Einar Schleef. Tagebuch 1999-2001. Berlin ? Wien

CMS_IMGTITLE[4]

Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2009 492 S., ? 30,00 ISBN: 978-3-518-42070-6

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