Briefliteratur & Tagebuch

Briefliteratur, die so poetisch und künstlerisch hochwertig ist wie Sarah Kirschs Gedichte sowie Christa Wolfs Romane

"Liebe liebe Christa schön daß Du noch hier geblieben bist auf dem beknackten Planeten!", schreibt Sarah Kirsch im Herbst 1988 an ihre Freundin, die eben eine lebensgefährliche Krankheit überwunden hat. Ein Jahrzehnt zuvor konstatiert Christa Wolf nach einem Treffen in West-Berlin, kurz nach Kirschs Ausreise aus der DDR: "Ich bin froh, daß ich bei Dir war und jetzt ganz ruhig an Dich denken kann." Zwei Autorinnen von internationalem Rang sind hier von 1962 bis 1990 miteinander im Austausch: über das Schreiben, den Literaturbetrieb im Osten wie im Westen, über die Männer, die Kinder, die Arbeit im Garten und die politischen Systeme, in denen sie leben. Letztere sind es wohl, die diese Freundschaft an ein Ende bringen, nach vielen Jahren des vertrauensvollen Miteinanders.

Streng und verspielt, heiter und verzweifelt, schnoddrig und ehrlich berichten Kirsch und Wolf aus ihrem Alltag, mit all seinen Höhen und Tiefen. Als außenstehender Leser nimmt man für einen Nachmittag/Abend daran teil, ganz so als wäre man ein Beobachter durchs Guckloch. Es ist ein einmaliges Eintauchen in den Kosmos von Christa Wolf und Sarah Kirsch, in deren Gedanken, Erfahrungen und vielfältigen Beziehungen. So lernt man die Frauen von ihrer privaten Seite kennen, fast wie ein guter Freund in den intimsten, außerdem intensivsten Augenblicken. Sabine Wolf gelingt eine editorische Meisterleistung, eine verlegerische Großtat, die in keinem Bücherregal fehlen darf. Chapeau und unser tiefster Dank dafür!

Literatur, von der einem ganz schwindelig wird - mit den Briefen von Sarah Kirsch und Christa Wolf erfährt man Stunden der puren Leseekstase. "»Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt«" bedeutet ein Lektüreerlebnis von solcher Intimität und solchem Schreibkönnen, dass es einem nicht nur den Atem sowie die Sprache verschlägt, sondern es einen sogar glatt umhaut. Der herausgebende Suhrkamp Verlag macht mit dem Buch dem Leser eine noch nie dagewesene Freude. Man verliert sich mit allen Sinnen in dieser Lektüre und merkt gar nicht, wie die Zeit vergeht. Wolf und Kirsch beweisen auch in dieser Gattung, dass ihre Worte die reinste, schönste Poesie in der deutschsprachigen Literatur sind. Ihre Schriftstücke sind bedeutende Dokumente der Zeitgeschichte.

Der Briefwechsel zwischen Sarah Kirsch und Christa Wolf ist ein literarisch höchst wertvoller. "»Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt«" umspannt fast dreißig Jahre einer ungewöhnlichen Freundschaft, weit über das Papier hinaus. Den beiden großen Autorinnen beim Schreiben und Leben zuzusehen ist ein Geschenk, noch dazu ein außergewöhnlich seltenes. Hier wird Erzählkunst auf ein neues Level gehoben. Das muss man lesen, unbedingt!

Susann Fleischer 
06.01.2020

 
Diese Rezension bookmarken:

Das Buch:

Sabine Wolf (Hg.): Sarah Kirsch, Christa Wolf: »Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt«. Der Briefwechsel

CMS_IMGTITLE[1]

Berlin: Suhrkamp Verlag 2019 456 S., € 32,00 ISBN: 978-3-518-42886-3

Diesen Titel

Logo von Amazon.de: Diesen Titel können Sie über diesen Link bei Amazon bestellen.