Briefliteratur & Tagebuch

Eine Auswahl von 476 Briefen aus der Zeit der Machtergreifung der Nationalsozialisten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges

Hermann Hesse gilt als einer der bedeutendsten Literaten des 20. Jahrhunderts. Seine Werke, darunter "Siddhartha", "Der Steppenwolf" oder "Das Glasperlenspiel", sind Pflicht im Deutschunterricht. Aber auch seine Briefe lohnen eine Entdeckung. "»In den Niederungen des Aktuellen«", der fünfte Band der Hesse-Briefedition, bringt dem interessierten Leser den Ausnahmeautor ein Stück weit näher. Man lernt ihn von seiner privaten Seite kennen, ist zugleich beeindruckt über die hohe Literarität dieser Schriftstücke. 750 Buchseiten lang ist man ganz sprach- und atemlos ob solch eines überragenden, unvergleichlich erschütternd-schönen Leseerlebnisses. Man verliert sich mit allen Sinnen in den Schilderungen Hesses und glaubt sich über viele Stunden lang tatsächlich ganz nah an den (damaligen) Geschehen.

Hermann Hesses Briefe aus den Jahren 1933 bis 1939 machen uns zu Zeugen seines Alltags seit Beginn der nationalsozialistischen Ära bis hin zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Obwohl er seit langem die Schweizer Staatsbürgerschaft innehatte, war auch er massiv von den kulturpolitischen Schikanen der neuen Machthaber betroffen. Fast alle deutschen Journale, die zuvor seine Beiträge veröffentlicht hatten, waren ihm künftig verschlossen, und auch die Publikation seiner zeitkritischen Bücher scheiterte am Einspruch der NS-Behörden. Überdies geriet er ins Kreuzfeuer beider Lager. Empörten sich die Nationalsozialisten über Hesses Einsatz für die Exilliteratur, so war für die Presse der Emigranten der Umstand, dass seine Bücher vorerst noch in Deutschland erhältlich waren, der Stein des Anstoßes.

Zugleich illustrieren die Briefe den praktischen Einsatz des Dichters für die Geflohenen und seinen Kampf gegen die Restriktionen der Schweizer Fremdenpolizei. Hesses Briefe bringen neues Licht in eine Nebelzone kulturhistorischer Forschung und zeigen, wie viel ein Einzelner gegen die Übermacht diktatorischer Regime auszurichten vermag.

"»In den Niederungen des Aktuellen«", herausgegeben von Volker Michels, macht das Lesen zu einem Genuss ohnegleichen. Kaum mit der Lektüre begonnen, kann man partout nicht mehr aufhören. Auch weil Autor Hermann Hesse seine Briefe mit einer ungeheuren emotionalen und sprachlichen Intensität zu schreiben weiß. Seine Werke fesseln einen so sehr, dass man von der Welt um sich herum nichts mehr mitbekommt. Dem Suhrkamp Verlag gelingt mit der vorliegenden Ausgabe wiederholt ein Geniestreich. Nach "»Ich gehorche nicht und werde nicht gehorchen!«", "»Aus dem Traurigen etwas Schönes machen«", "»Eine Bresche ins Dunkel der Zeit!«" und "»Ich bin ein Mensch des Werdens und der Wandlungen«" zeigt sich erneut: Hesses Briefwerk steht seinen Dichtungen in nichts nach und ersetzt in ihrem tagebuchähnlichen Charakter fast jede Biographie.

Hermann Hesses Briefe sind wichtige Zeitdokumente sowie Zeugnisse außerordentlich schriftstellerischen Könnens. Diese gehören unbedingt in jedes Bücherregal. "»In den Niederungen des Aktuellen«" bedeutet Literatur, wie man diese definitiv nicht alle Tage in die Hände kriegt, zudem ein Geschenk von größter Seltenheit.

Susann Fleischer
02.07.2018

 
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Das Buch:

Volker Michels (Hg.): Hermann Hesse: »In den Niederungen des Aktuellen« - Die Briefe. 1933-1939

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Berlin: Suhrkamp Verlag 2018
750 S., € 58,00
ISBN: 978-3-518-42810-8

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