Autobiographie
Panikattacken bestimmten fast mein ganzes Leben
Die Autorin hat es sich von der Seele geschrieben - ihr Leiden, das ihr jahrzehntelang ein normales Leben nicht möglich machte.
Von ständigen Panikattacken heimgesucht, auf Therapien und medikamentöse Behandlung angewiesen, gibt die gelernte Einzelhandelskauffrau Fruhstorfer ihren Job als Chemiefacharbeiterin auf und setzt all ihre Hoffnung auf eine Umschulung. Nach kurzen Anlaufschwierigkeiten wechselt sie erfolgreich in die Touristikbranche. Lange Zeit verbringt sie als Reiseleiterin fern ihrer bayerischen Heimat im Süden - neben Lanzarote und Teneriffa wird vor allem die Baleareninsel Mallorca zu ihrem ständigen Aufenthaltsort, bevor sie auf der MS Deutschland, dem bekannten Fernseh-"Traumschiff", die Weltmeere bereist und zur Chef-Hostess avanciert.
Ihr neues Leben verlangt Fruhstorfer viel ab. Anders als bei ihrer zurückgezogenen Arbeit in der Produktionsstätte einer Werkshalle kommt sie unter Menschen: Partys und Freizeitspaß stehen rund um die Uhr auf dem Plan. Fruhstorfer feiert mit, animiert die Touristen. Auch privat ist sie kein Kind von Traurigkeit. Ihr gesundheitliches Handicap aber bleibt ihr ständiger Begleiter; die abrupten, panischen Angstanfälle beeinträchtigen sie unverändert in Beruf und Alltag. Die behandelnden Ärzte verschreiben weiterhin Betablocker und Psychopharmaka, die ihrer Patientin die Unsicherheit nehmen, sie beruhigen sollen. Immer tiefer aber lassen sie Fruhstorfer in die Tablettenabhängigkeit abdriften. Mit Alkohol trinkt sie sich Mut an. Gesundheitsgefährdende und lebensbedrohliche Situationen bleiben bei ihrem permanenten "Dopingzustand" nicht aus. Hinter einem Leben im Touristenrummel spielt sich das Versteckspiel einer Suchtkranken ab.
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Fruhstorfers Leben bietet ausreichend Stoff für die Autobiografie einer nicht prominenten Person.
Die Autorin erzählt, wer sie ist, wie sie gelebt hat. Sie steht zu dem Erlebten, hat es für sich und uns aufgeschrieben.
Dafür verwendet Fruhstorfer eine geradlinige, unauffällige Sprache, die bescheiden im Hintergrund agiert. Der typisch bayerische Sprachraum der Autorin wird unterdrückt, auch der spanische Wortschatz belastet nicht in Übermaßen. Sprachstil als künstlerisches Kriterium bleibt außen vor.
Dem literarischen Genre entsprechend wird Inhalt insgesamt größergeschrieben als Sprache. Die detaillierte Fülle der Geschehnisse wahrt dabei Übersichtlichkeit.
Mit ihren Panikattacken, die im Vordergrund stehen und sich wie ein roter Faden durch den Text ziehen, packt die Autorin ein Tabuthema an. Mutig wagt sie ein Plädoyer für ein Krankheitsbild, das von Nichtbetroffenen nur allzu gerne leichtfertig bagatellisiert wird. An Panikattacken Erkrankte werden dankbar sein für die Lobby, die ihnen zu einem breiteren Verständnis verhilft. Der nicht erkrankte Leser dagegen lernt dazu, hört aus erster Hand von den Symptomen einer Krankheit, der er künftig vielleicht mit etwas mehr Toleranz begegnen wird. Fruhstorfer selbst dürfte mit dem Outing ihrer Erkrankung ein Stück heilsame Bewältigungsarbeit geleistet haben. Eine Freundin hatte ihr den Vorschlag gemacht, ihre Lebenserfahrungen zu Papier zu bringen, um sich von den seelischen Altlasten zu befreien. Eine effektive Methode, wie Fruhstorfer zugibt.
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"Ich möchte nun also über mein Leben erzählen. Ein Leben, das mich so viel Kraft gekostet hat und das manchmal trotzdem auf seine Weise so erfolgreich und so schön war. (…) Ich möchte ganz einfach erzählen, wie alles begann und wie ich immer mit all meiner verfügbaren Kraft versuchte, den Schein zu wahren, selbst in den Stunden meiner allertiefsten Verzweiflung."
Man liest "Marlenes Geschichte" gerne - zumal man erfährt, dass die Autorin mittlerweile den Teufelskreis ihrer psychischen Störungen hinter sich gelassen hat.
Geholfen hat ihr auch der Glaube an Gott. Fruhstorfer ist bei ihren Großeltern in der Nähe von Marktl am Inn groß geworden, dem Geburtsort Papst Benedikt XVI. Bei einem Flug von Köln nach Rom segnet dieser per Lautsprecher aus seiner Maschine heraus den kleinen oberbayerischen Ort. Fruhstorfer, die gerade bei Verwandten in der Region zu Besuch ist, fasziniert das außergewöhnliche Erlebnis. Sie fühlt sich von Gott berührt, legt fortan ihre Geschicke verstärkt in seine Hände.
Ihrer zweiten Heimat in Spanien aber ist Fruhstorfer ebenso treu geblieben: Sie arbeitet heute als selbstständige Beraterin in der mallorquinischen Immobilienbranche.
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Den Schritt an die Öffentlichkeit mit der literarischen Darstellung ihres eigenen Lebens hat Fruhstorfer als Autorin gemeistert. Am Ende dominiert thematisch nicht nur das eindrücklich beschriebene psychosomatische Krankheitsbild - auch Fruhstorfers Person an sich hat Interesse geweckt.
Hugo Meyer
15.12.2014