Autobiographie

"Wollt ihr frei sein oder Knechte?"

Das Schicksal der jüdisch-ungarischen Familie Kollin von der Endzeit der k.u.k. Doppelmonarchie bis zur Wende 1989 steht im Mittelpunkt der zeitgeschichtlichen, teils autobiografischen Erzählung "Der Nazi und das goldene Zigarettenetui“ von Miklós Kollin. Am Beispiel seiner Familie lässt der Autor die Schicksale einfacher Leute im Ungarn des 20. Jahrhunderts lebendig und emotional fassbar werden.

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Als Sohn jüdischer Eltern wird Miklós Kollin 1944 in Budapest geboren. Die Familie wohnt im Stadtteil Pasarét, einem bürgerlich geprägten Villenviertel im Nordwesten der Stadt. Längst fühlen sich die Kollins als echte Ungarn und werden Teil der wechselhaften, vielfach dramatischen Geschichte ihres Landes. Der Vater kämpft 1915 auf Seiten der Donaumonarchie für die Länder der Stephanskrone (die ungarische Reichshälfte).

1942 stirbt Miklós' Onkel Sandor in der Kesselschlacht von Woronesch, bei der die ungarische 2. Armee fast vollständig vernichtet wird. Ein Jahr später, während des Pfeilkreuzler-Aufstandes, müssen Miklós' Eltern ihr Kind und sich selbst zugleich vor Judenhass und Terror der ungarischen Nazis sowie vor dem massiven Beschuss der belagerten Stadt durch die Rote Armee schützen. Als Miklós' Vater 1945 von den Pfeilkreuzlern aufgegriffen wird, rettet ihm sein goldenes Zigarettenetui das Leben.

Wenig später ist der Nazi-Spuk vorbei. Doch der Sieg der Roten Armee 1945 - für Ungarn ist er nichts weiter als ein Wechsel der Besatzungsmacht - bringt neues Leid über die Familie: Im Keller ihres Hauses werden Miklós' Tante Nusi und ihr Mann Dezsö von betrunkenen sowjetischen Offizieren erschossen - Besatzerwillkür, wie sie damals nicht selten ist. Noch im gleichen Jahr eröffnet er sein Geschäft wieder. Diesmal ohne seinen Bruder. Der Firmenname "Gebrüder Kollin“ blieb. Aber schon vier Jahre später wird der Unternehmer von den Kommunisten enteignet. Der Vater flieht daraufhin in den Westen, von wo aus er 1950 die abenteuerliche Flucht seiner Frau und des kleinen Miklós organisiert.

Miklós' Mutter ist eine mutige Frau. Obwohl jüdischer Abkunft, bezeichnet sie sich als Atheistin. Sie beeindruckt durch Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit. Ihrem Sohn erspart sie - trotz wiederholter "Anläufe“ des bekennenden jüdischen Ehemannes - die ihrer Ansicht nach "vorsintflutliche“ Beschneidung. Und auch 1956, während der ersten Euphorie des Volksaufstandes, in dessen Verlauf die Regierung unter Imre Nagy die Neutralität Ungarns und den Austritt aus dem Warschauer Pakt erklärt, ist es wiederum seine Mutter, die das brutale Eingreifen der Sowjetarmee vorhersieht. Eindringlich warnt sie vor einer Rückkehr nach Ungarn - und behält Recht.

Mit dem Scheitern des Volksaufstandes zerschlagen sich alle Hoffnungen der Familie auf eine baldige Rückkehr in die geliebte Heimat. In München wagt der Vater mit 60 Jahren noch einmal einen geschäftlichen Neuanfang.

Nach seinem Tod 1968 vergehen noch 21 Jahre, bis am 27. Juni 1989 Ungarns Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock die Grenze zwischen Ungarn und Österreich öffnen. Fassungslos verfolgen Miklós Kollin und seine Mutter das Geschehen im Fernsehen. Es ist der Anfang vom Ende des Ostblockes und der übermächtigen Sowjetunion.

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Historische Ereignisse wirken auf tragische Weise hinein in das Leben der einfachen Menschen. Am Beispiel der Familie Kollin wird die jüngere ungarische Geschichte in ihren Zusammenhängen verständlich. Für zahllose Familien, vor allem für die ungarischen Juden, sind die politischen Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts untrennbar verknüpft mit dramatischen, teils traumatischen Erlebnissen und zutiefst menschlichen Emotionen.

Da sind die wie ein Schatz gehegten Kindheitsträume, die Liebe zur Heimat, die Sehnsucht nach Freiheit. Da sind Angst, Verzweiflung und Tod, die kurze Phase der Zuversicht, der nach 1956 eine lange Zeit der Hoffnungslosigkeit folgt. All das prägt die Menschen über viele Jahre hinweg. Indem er seine eigenen Erinnerungen und die seiner Mutter niederschreibt, bewahrt Miklós Kollin zugleich die Erinnerung an seine Eltern wie auch an tausende Opfer von Krieg, Judenhass und politischer Verfolgung.

Miklós Kollin, seine Eltern und Verwandten stehen symbolisch für den schicksalhaften Weg Ungarns zur Demokratie. Sie geben den Menschen hinter den historischen Ereignissen Gesichter, Namen, Persönlichkeit - und sie wecken Sympathie für dieses Land, dem auch wir Deutschen so viel zu verdanken haben.

Mario Lichtenheldt
14.02.2011

 
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Das Buch:

Miklós Kollin: Der Nazi und das goldene Zigarettenetui - Schicksale ungarischer Familien zwischen Vernichtung und Exil

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Hamburg: tredition GmbH 2010
55 S., € 14,99
ISBN: 978-3-86850-603-7

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