Medien & Gesellschaft
Mit der Zeitmaschine ins 14. Jahrhundert
Es ist seit jeher der Traum des Menschen, sich aus dem Hier und Jetzt zu verabschieden und auf der Zeitachse in Bewegung zu setzen. Natürlich interessiert den Zeitreisenden primär der Blick in die Zukunft, um die Neugier zu befriedigen, worauf denn der ganze technische Fortschritt und die Entwicklung des Menschen hinauslaufen. Doch genauso gut lohnt es sich, in der hochtechnisierten Welt des 21. Jahrhunderts einmal innezuhalten und zu hinterfragen, wie der Mensch denn vor vielen hundert Jahren ohne die nahezu uneingeschränkte Mobilität, ohne Kommunikationsmittel und ohne Strom sein Leben bestritten hat.
Der englische Autor und Mittelalter-Experte Ian Mortimer hat sich mit genau dieser Fragestellung beschäftigt und liefert mit seinem neuesten Werk "Im Mittelalter – Handbuch für Zeitreisende" eine knapp 400 Seiten starke Möglichkeit, in die Welt des Mittelalters abzutauchen. Mortimer hat sich für seine Zeitreise auf eine eingeschränkte Periode, nämlich das England des 14. Jahrhunderts fokussiert, denn obgleich der Fortschritt im Mittelalter noch weniger beschleunigt als heutzutage vonstatten ging, unterschied sich das Leben auf der Insel Ende des 14. Jahrhunderts bereits erheblich von dem zu Beginn dieses Jahrhunderts.
Mortimer hat sein Buch für den Zeitreisenden größtmöglich vom Ballast des Geschichtswissens befreit und ganz klar den Alltag des Engländers im 14. Jahrhundert im Visier. Er erklärt anschaulich, wie er sich schon in jungen Jahren für die Fragestellungen nach dem Leben des Menschen im Mittelalter begeistern konnte. Als seine Eltern mit ihm und seinen Brüdern zahlreiche Burgen in England und Wales besichtigten, wollte er stets die Menschen zu ihrer Zeit vor seinem geistigen Auge zum Leben erwecken lassen. Darüber fühlt Ian Mortimer ob seines Familiennamens noch eine weitreichende Verbundenheit mit der englischen Geschichte des Mittelalters. Die Historie der Mortimers lässt sich nämlich bis zurück ins 11. Jahrhundert verfolgen. Dabei hielten sie sich wohl auch mehrere Male in allernächster Nähe zum englischen Thron auf.
Im Vorwort für die vorliegende deutsche Ausgabe geht der Autor auf die Unterschiede zwischen dem mittelalterlichen Leben in England und in deutschen Landen ein. Mortimer betont dabei vor allem die abweichenden äußeren Gegebenheiten. Während England bereits seit dem 11. Jahrhundert zentralisiert regiert wurde, war Deutschland als solches noch nicht existent und vielmehr eine Ansammlung vieler Herzog- und Fürstentümer. Jedoch war der Urbanisierungsgrad in Deutschland deutlich fortgeschrittener als in England und kannte bereits viele Großstädte, wohingegen es in England neben London nur noch zwei weitere Städte mit mehr als 10.000 Einwohnern gab. Doch eines war beiden Ländern zu besagter Zeit gemein: Sowohl auf dem Festland als auch auf der Insel wütete Mitte des 14. Jahrhunderts der Schwarze Tod!
Mortimer nimmt den Leser an die Hand und führt ihn in thematisch unterteilten Kapiteln durch das England des 14. Jahrhunderts wie in einem Reiseführer. Dabei weist er auf die Besonderheiten der einzelne Städte und Landschaften hin und erläutert diese ausgiebig. Er zeigt, worauf im Umgang mit den Menschen aus dieser Epoche zu achten ist, denn sicherlich wird sich der Zeitreisende nicht mit den Umgangsformen des damaligen homo sapiens ohne weiteres zurechtfinden. Mortimer durchleuchtet die gesellschaftliche Struktur, er schreitet mit einem über die Märkte, die damals zweifelsohne einen Mittelpunkt des Alltagslebens bildeten. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit alltäglichen Fragen nach der Kleidung, den Ess- und Trinkgewohnheiten sowie der Freizeitgestaltung, denn bereits vor 700 Jahren lebten und genossen die Engländer ihre Freizeit.
Überraschendes hat Mortimer bei seiner Reise durch das 14. Jahrhundert allerorten zu berichten. Keineswegs waren alle Engländer im 14. Jahrhundert grobschlächtige Barbaren. So war beispielsweise die Alphabetisierungsquote selbst auf dem Land deutlich höher als man gemeinhin erwarten würde. Auch konzentrierte sich das Leben einer Vielzahl von Menschen bei weitem nicht nur auf die jeweilige Stadt und die beiden nächstgelegenen Dörfer, sondern zog viel größere Kreise um den jeweiligen Mittelpunkt der Menschen, als man ob der eingeschränkten Mobilität zur damaligen Zeit annehmen würde.
Wer bereits an Rebecca Gablés mittelalterlichem Streifzug "Von Ratlosen und Löwenherzen" seinen Gefallen fand, wird an diesem, doch deutlich weniger geschichtslastigen Buch seine helle Freude haben, da hier das Alltagsleben des Engländers im Mittelpunkt steht. Bei allem Lesegenuss stellt sich dem kritischen Leser natürlich die Frage, inwieweit ein solches im Plauderton geschriebenes Buch letztlich der lebhaften Fantasie des Autors entsprungen ist oder ob sich die unzähligen Aussagen und Beschreibungen bei einer Zeitreise ins 14. Jahrhundert tatsächlich nachweisen ließen? Doch wie die zahlreichen Anmerkungen und Referenzen sowie die Bibliografie im Anhang zeigen, scheint der Autor eine sehr intensive Quellenforschung betrieben zu haben, um das gesamthafte Bild vom 14. Jahrhundert in seinem Kopf zu formen und niederzuschreiben. Somit dürften den Zeitreisenden bei seinem Trip kaum unvorhergesehene Überraschungen erwarten!
Christoph Mahnel
02.06.2014