Medien & Gesellschaft

Aufrichtige Abgeordnete

Ob die Volkskammer der DDR je eine Kammer des Volkes war? Zweifel kommen auf. Zweifel lassen sich zerstreuen. Die Volkskammer war, wie nie zuvor, eine Kammer des Volkes. Jene Volkskammer, die sich nach den Wahlen vom 18. M?rz 1990 konstituierte und die sich schlie?lich selbst durch ihren Beschluss abschaffte, mit der gesamten DDR der Bundesrepublik Deutschland beizutreten. Ob der Beschluss dem Willen der gesamten DDR-Bev?lkerung entsprach? Das Volk wurde nicht gefragt. Soviel Wagnis erwog selbst die letzte Volksvertretung der DDR nicht. Dennoch war sie, wie sie war, eine der demokratischsten, wenn nicht die demokratischste parlamentarische Institution der deutschen Geschichte. Wenn das nicht wieder nur eine Behauptung ist!

Wann aber konnten Abgeordnete je behaupten, dass der entscheidende Teil ihrer Arbeit im Plenum selbst stattfand? Behaupten k?nnen das drei Abgeordnete des ersten, einzigen frei gew?hlten DDR-Parlaments. Es sind der Jurist Rolf Schwanitz (SPD), der Arzt Burkhard Schneewei? (CDU), die Historikerin Dagmar Enkelmann (PDS). "Spontaneit?t war das Gebot der Stunde" ist der Titel der von Nicole Glocke erm?glichten Publikation, die mit den ?beraus unterschiedlichen wie doch vergleichbaren Biographien der drei Mandatstr?ger bekannt macht. Das Agieren der Drei in einer historischen Stunde hat sie zu Personen der Zeitgeschichte gemacht. Geschm?ht von ihren bundesdeutschen Parlamentskollegen als politische Laientruppe, haben sie pers?nlich engagierter, direkter, gewissenhafter gehandelt als dies deutschen Parlamentariern anderer Zeiten gelang.

So verschieden die drei Biographien auch sind, sie sind sich ?hnlich in ihrer typischen DDR-Bildungsbiographie. So unterschiedlich ihre politischen Haltungen, so verbindlich, verbindend ist ihr gesellschaftlicher Gemeinsinn. Und der machte den besonderen Zusammenhalt der Abgeordneten der letzten Volkskammer aus. Nicht zuf?llig sind sie sich in der Gewissheit einig, das alles verblasst vor dem Hintergrund der parlamentarischen Arbeit, die zwischen April und September in der Ost-Berliner Volkskammer getan wurde. Jeder der Beteiligten hebt vor allem das interfraktionelle Tun hervor, das getragen wurde vom gegenseitigen Respekt, der die Grundstimmung in der Volkskammer ausmachte.

Etwas, das Enkelmann und Schwanitz am ehesten vermissten, wenn sie andeutungsweise von ihren Erfahrungen im Bundestag berichteten, aus dem sich Schneewei? fernhielt, der seit den siebziger Jahren in der Volkskammer war. Seine zur?ckschauenden Reflektionen auf die Gleichf?rmigkeit, Eint?nigkeit, Zwecklosigkeit des DDR-Parlaments unter der ?gide der Staatspartei SED sind deshalb ein substanzieller Beitrag des Buches, weil er generelle R?ckschl?sse auf parlamentarisches Tun in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen zul?sst. Das n?tzt der differenzierten Beurteilung und Bewertung. Auch wenn auf die Gegenwart des Parlamentarismus geschaut wird.

Wichtig wird die Publikation immer dann, wenn sie sachlich in der Darstellung bleibt, wenn sie ausf?hrliche Einblicke in die Biographien gibt. Schildert die Autorin Nicole Glocke Eindr?cke, Wahrnehmungen, wozu sie gern neigt, gibt?s Kolportage-Prosa zu lesen, die der Absicht des Buches geradezu entgegengesetzt ist. Gut also, dass die biographischen Aussagen nicht nur ausf?hrlich, sondern detailliert-gr?ndlich sind und dem Sachbuch die Sachlichkeit bewahren. Schlie?lich hat das Volk ein Recht darauf, von den gew?hlten Abgeordneten zu erfahren, was sie wie wirklich im Interesse des Volkes tun. Sch?n w?r?s! Vielleicht ist das Buch ein guter Anfang.

Bernd Heimberger
06.02.2012

 
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Das Buch:

Nicole Glocke: Spontaneität war das Gebot der Stunde. Drei Abgeordnete der ersten und einzigen frei gewählten DDR-Volkskammer berichten

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Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2011
240 S., € 14,95
ISBN: 978-3-89812-898-8

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