Medien & Gesellschaft
Der Megakonzern als maroder Lotterladen
Hand aufs Herz: Eigentlich ist es doch schon fast zu einfach, sich über die Deutsche Bahn zu entrüsten. Teils absurde Verspätungen, baufällige Bahnhöfe, Anlagen und Züge, haarsträubend schlechter Service und dennoch stetige Preiserhöhungen sind an der Tagesordnung. Doch wer weiß: Vielleicht sind wir, die wir uns für geprellte, ausgenommene Kunden halten, auch einfach überkritisch? Vielleicht gibt es ein Licht am anderen Ende des Tunnels? Vielleicht ist sich die Bahn all dieser Missstände bewusst und arbeitet bereits mit Hochdruck daran, sie aus der Welt zu schaffen? Besonders jetzt, da nach dem Abtritt des umstrittenen Hartmut Mehdorn (scheinbar) frischer Wind in der Führungsriege des Konzerns weht? Wie die Journalisten Christian Esser und Astrid Randerath offenlegen, könnte jedoch nichts weniger zutreffend sein.
Wussten Sie beispielsweise, dass die Bahn mittlerweile einen großen Teil ihres milliardenschweren Einkommens mittlerweile nicht mehr in Deutschland, sondern als Logistik-"Global Player" in den USA oder in China erwirtschaftet? Und dass sie in Deutschland im Gegenzug immer mehr Strecken stilllegt, Bahnhöfe vom Netz nimmt und ihre Investitionen deutlich zurückgefahren hat? Oder dass ein gewichtiger Grund für die Sparmaßnahmen auf Kosten von Kunden wie Arbeitnehmern der von Wolfgang Mehdorn angestrebte Börsengang der Bahn ist? Dass die meisten Züge heutzutage ohne Schaffner unterwegs sind? Oder, dass die Bahn zehn Jahre lang ihre eigenen Mitarbeiter mit einem groß angelegten, millionenschweren Lauschangriff bespitzelte? Dass es in modernen Zügen nicht einmal mehr eigene Toiletten für Lokomotivführer gibt? Und auch über die internen Machtkämpfe in der Bahn-Führungsetage und die teilweise haarsträubenden Sicherheitsmängel in DB-Fahrzeugen aller Art verrät "Schwarzbuch Deutsche Bahn" mehr, als so manch zartbesaiteter Natur lieb sein mag.
Um zu belegen, dass das Autorenduo seine unverhohlene Kritik an dem letzten großen Unternehmen im Besitz des deutschen Staates nicht aus der Luft gegriffen hat, wird dem Leser eine Vielzahl an Beweismaterial geboten. Von überaus aussagekräftigen Experteninformationen über Interviews mit (Ex-)DB-Mitarbeitern bis zu Kopien von offiziellen, Bahn-internen Dokumenten enthält "Schwarzbuch Deutsche Bahn" so einiges, was den Bahn-Verantwortlichen nicht schmecken wird. Auch bei manchem Bahn-Fan wird die Wut über den Konzern groß sein. Von dem unvermeidlichen Frust darüber, dass all dies von Drahtziehern gesteuert wird, die der Normalsterbliche nie zu Gesicht bekommt, ganz zu schweigen. Und auch die gebeutelten Bahn-Mitarbeiter, die für die Entscheidungen ihrer Vorgesetzten die Köpfe hinhalten müssen, wird so mancher schnell in einem anderen Licht betrachten.
Nach der Lektüre der vorliegenden Bestandsaufnahme über die Horrorstory "Deutsche Bahn" wird sich mancher Leser mit großer Wahrscheinlichkeit wünschen, nie mehr einen Zug oder eine S-Bahn besteigen zu müssen. Und wer es sich tatsächlich leisten kann, wird das besagte Vorhaben wohl auch in die Tat umsetzen. Eingeweihte, die sich nicht in einer solch beneidenswerten Situation befinden, werden hingegen in Zukunft garantiert zweimal überlegen, bevor sie ihren Unmut an dem überlasteten DB-Personal auslassen. Keine Frage: "Schwarzbuch Deutsche Bahn" überzeugt mit einer schier unerschöpflichen Fülle an teils schockierendem, fundiertem Insiderwissen, das auch Kenner der DB-Anti-Erfolgsstory überraschen wird. Ein Buch voller teils erstaunlicher Enthüllungen für Bahn-Hasser und Bahn-Verteidiger gleichermaßen.
Johannes Schaack
04.07.2011