Medien & Gesellschaft

Elend der Entwürdigung

Ein bundesdeutscher Politiker verglich die gesamte DDR mit einem Konzentrationslager. Der Vergleich war in vielfacher Hinsicht falsch. Ein Jugendlicher, Jahrgang 1967, eingewiesen von den DDR-Beh?rden in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, f?hlte sich "wie ein einem KZ". Ein anderer Jugendlicher, ebenfalls in Torgau interniert, f?hlte sich "wie in der H?lle". Was Bautzen f?r politische Gefangene in der DDR war, war Torgau f?r Jugendliche Gefangene. Ein Ort des Elends, der Entw?rdigung, des ?berlebens. Bautzen und Torgau waren Unorte, in denen Biographien endeten oder f?rs Leben gest?rt wurden. Was das im Einzelfall bedeutete, davon ist einiges in dem Buch "Erziehung hinter Gittern" zu erfahren, dessen Autorin Nicole Glocke ist. Mit Gleichmut ist das Buch nicht zu lesen. Gleichg?ltig kann es nicht lassen.

Berichtet wird, erz?hlend wie zitierend, was dem 1955 geborenen Ralf Weber, dem 1967 geborenen Stefan Lauter in Kinder-, Jugendheimen und Jugendwerkh?fen geschehen ist. Beide Schicksale sind schlimme Schicksale. Individuelle Schicksale junger Menschen, denen keine individuelle Entwicklung gestattet wurde und die gegen das Brechen ihrer Individualit?t rebellierten. Unangepa?te, Unabh?ngige, Kreative, die sie ihrem Wesen nach waren, war ihr Wille nicht zu brechen. Sie waren, in jeder Hinsicht, Unerziehbare, die die Praktiken der Heimerziehung ? la DDR h?tten erziehen sollen. Welche Berechtigung hat das Wort Erziehung ?berhaupt, wenn von den Machenschaften, der Macht gesprochen werden mu?, denen die Jungen ausgesetzt waren? Das Wort Erziehung ist fehl am Platze. Die Erzieher waren keine Erzieher. In keinem p?dagogischen, keinem menschlichen Sinne.

Das Buch ist ein Buch vom Mi?brauch von Kindern. Jugendlichen aus politischen Gr?nden mit politischen Mitteln. Ein Mi?brauch, der, wie jeder Mi?brauch, nicht zu rechfertigen ist. Ein Mi?brauch, der zuerst ein bitteres pers?nliches Erlebnis mit weiterwirkenden Folgen ist. Nichts ist zu besch?nigen. Zu fragen ist aber, wieviel ist im Pers?nlichen vom Allgemeinen? Wieviel im Individuellen vom Gesellschaftlichen? Ist ein System, das sich an dem Einzelnen vergeht, das System an sich? Weber und Lauter ?u?ern sich vermeintlich eindeutig, wenn sie dem System Menschlichkeit absprechen, in dem ihnen Unmenschliches widerfuhr. Und sie sind sich nicht sicher in ihrer Eindeutigkeit. Weber, dem eine Ausreise angeboten wurde, weist sie zur?ck. Das hat nichts mit Zwiespalt zu tun. Das hat auch mit Pers?nlich-Famili?rem zu tun. ?ber Vers?umnisse, Hilflosigkeit, Schutzlosigkeit der Familien von Heimkindern ist nachzudenken. Wer waren, wann und wie, die Versager, deren Opfer die Kinder gewesen sind?

Das Buch "Erziehung hinter Gittern" dr?ngt den Lesern fortw?hrend Fragen ?ber Fragen auf. Das Buch ist eine Antwort. Die einzige, abschlie?ende Antwort ist es nicht. Die detaillierten Darstellungen beider Jungen bringen nicht alles ins Gespr?ch. Geradezu versch?mt, wenn denn ?berhaupt, wird Sexualit?t erw?hnt. Was wahrlich stutzig macht, wenn festgestellt wird, dass von Pubertierenden in einer Zwangsgemeinschaft die Rede ist. Die R?cksicht der Auskunftsgebenden ist verst?ndlich, nicht die der Autorin, die eine Auskunftspflicht hat.

Nicole Glocke, Jahrgang 1969, j?nger also als die beiden Befragten, hat die DDR nicht von innen gesehen. Aus Bochum kommend hat sie Geschichte und Politikwissenschaft studiert. Eine Analytikerin, Psychoanalytikerin gar, ist sie nicht. Vieles von dem, was sie erfahren hat und wiedergibt, h?tte eine erkl?rte Analytikerin anders erkl?rt. Glocke gibt der Darstellung des Faktischen den Vorzug. In der Vermittlung der Fakten nimmt sie h?ufig die Funktion einer Erz?hlerin ein. Die ist sie nun wahrlich nicht. Beschreibt sie Menschen, m?ssen sich die Leser folgende Beschreibungen gefallen lassen: "Die auffallend junge, blonde Richterin". Von diesen zur Kultur des Kitschs geh?renden Beschreibungen ist das Buch voll. Die Autorin von "Erziehung hinter Gittern" hat kein klares Sachbuch verfa?t, keine Fallstudien, kein wissenschaftliches Werk. Das wird denen mi?fallen, die das Eindeutige erwarten. Bei aller Eindeutigkeit, die die geschilderten Lebensgeschichten haben, f?r Endg?ltig-Eindeutige Verallgemeinern eignen sie sich nicht. Nicole Glockes erste Absicht ist es gewesen, Aufmerksamkeit zu gewinnen und zu erhalten. Das ist nicht wenig! Das ist viel! 

Bernd Heimberger
04.04.2011

 
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Das Buch:

Nicole Glocke: Erziehung hinter Gittern. Schicksale in Heimen und Jugendwerkhöfen der DDR

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Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2011
336 S., € 16,90
ISBN: 978-3-89812-782-0

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