Medien & Gesellschaft
Politische Betrachtungen: das Gesamtwerk neu gelesen
Das mit einem Thomas Mann porträtierenden Umschlagfoto auf den ersten Blick wie eine Biographie anmutende Buch ist keine. Vielmehr ist es das gigantische Unternehmen, Werk und Wirken des "bedeutendsten deutschen Schriftstellers des 20. Jahrhunderts" in einer umfassenden, anspruchsvollen und zugleich gut lesbaren Darstellung auf dem Hintergrund der "Zeit" zu würdigen.
Bedeutende Vorleistungen zu dieser Herkulesaufgabe und - angesichts Tausender Titel an Sekundärliteratur - wahren Sisyphusarbeit waren vorhanden. Man denke nur an das von Helmut Koopmann herausgegebene "Thomas-Mann-Handbuch" (1990) oder Hermann Kurzkes Arbeitsbuch zur Literaturgeschichte, "Thomas Mann: Epoche - Werk - Wirkung" (1985), aber z.B. auch an Hans Mayers "dialektische Auseinandersetzung" ("Thomas Mann", 1980) sowie die großen Biographien von Peter de Mendelssohn (1975), Klaus Harpprecht (1995), Hermann Kurzke (1999) und Hanjo Kesting (2023).
Wie die genannten Bücher markiert auch die von Dieter Borchmeyer vorgelegte Gesamtschau auf "Werk und Zeit" eine Etappe der fortwährenden Erforschung und Auslegung des Schaffens Thomas Manns. Und doch leistet sie in ihrer enzyklopädisch-leserbezogenen Ausrichtung mehr, kann man sie neben der "Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe" der Werke als Meilenstein der Erschließung und Erkundung von Thomas Manns Œuvre für Leserinnen und Leser feiern. Denn Borchmeyer legt weniger abgeschlossene Interpretationen der einzelnen Werke vor, als vielmehr mehrfache Lektüren aus verschiedenen Perspektiven, sodass Vielfalt wie Kontinuität der Themen und Motive beispiellos offengelegt und Verknüpfungen sichtbar werden.
So werden die "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" z.B. aus den unterschiedlichen Blickwinkeln u.a. von medialer Rezeption und Zeitgeschichte, als Künstler-, Bildungs- und hermetischer Roman sowie unter den Aspekten von Erotik, Mythologie und Religion in sieben Unterkapiteln ausgeleuchtet; und die zehn Unterkapitel zum "Zauberberg" behandeln u.a. die Themen Todesliebe und Lebensfreundschaft, Bürgerlichkeit, Kunst, Musik, Dialektik und Zeit, Bildungs- und moderner Roman, Themen, die wiederum zum Teil in den Ausführungen zu den "Buddenbrooks" und frühen Erzählungen, zum Teil in den "Doktor Faustus"- und "Joseph und seine Brüder"-Kapiteln eine Entsprechung haben.
Neben dieser überaus wertvollen Offenlegung der Querverbindungen im Werk aber liegt die eigentliche Stärke des Buches in einer umfassenden Sichtung der essayistischen Schriften und dem Schwerpunkt auf der Auseinandersetzung der Romane und Erzählungen mit Deutschland und den Deutschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Insofern ist es - bei aller Meisterschaft der literaturwissenschaftlichen Auslegung - vor allem auch ein politisches Buch.
Allein den rätselhaften "Betrachtungen eines Unpolitischen" (1918) sind 29 Seiten gewidmet, auf denen der Verfasser Widersprüche und Ironie in Thomas Manns Behandlung des Konservatismus, Gedankenspiele und Mehrstimmigkeit im Text, das "Nein-und-doch-Ja", sowie in einzelnen Passagen versteckte Bekenntnisse zum Republikanismus, ja sogar zur Sozialdemokratie, kenntnisreich herausarbeitet. Zu Recht stellt er deshalb die Frage: Wäre es nicht ratsam gewesen, die "Betrachtungen" als einen Dialog-Essay zu gestalten? Ist doch das stereoskopische Sehen das Geschäft des Schriftstellers: "den, der gerade spricht, immer recht haben zu lassen". (Thomas Mann)
Dieter Borchmeyer, der im einleitenden "Vorsatz" eine Brücke vom vergangenen Jahrhundert in die Gegenwart schlägt, diskutiert in seiner ausgezeichneten Gesamtdarstellung zahlreiche politische Reflexionen zur "Zeit", wie sie nur ein großer Schriftsteller und Denker entfalten und auf den Punkt bringen konnte (hier z.B. aus "Joseph, der Ernährer" als "Gegenbotschaft zum Grauen der Zeit"): "ein Mann, der die Macht braucht, nur weil er sie hat, gegen Recht und Verstand, der ist zum Lachen. Ist er's aber heute noch nicht, so soll er's in Zukunft sein, und wir halten's mit dieser."
Holger Schwinn
24.06.2024