Medien & Gesellschaft
Hieroglyphen - Decoded
Als im Jahre 1799 die französischen Invasoren unter Führung Napoleons das Land am Nil einnahmen und durchforsteten, entdeckten sie einen abgebrochenen Stein mit allerlei unterschiedlichen Schriftzeichen darauf. Keiner der Anwesenden ahnte wohl zu diesem Zeitpunkt, dass der Fund dieses Steins einem historischen Durchbruch gleichkommen sollte, der von Archäologen seit etlichen Jahrhunderten herbeigesehnt worden war. Bei diesem Stein, der ob seines Fundorts den Beinamen "von Rosette" erhalten sollte, handelte es sich um einen dreisprachigen "Notizzettel", der scheinbar eine Nachricht in drei verschiedenen Sprachen enthielt. Auf der oberen Abbruchkante waren eindeutig Hieroglyphen zu erkennen, am unteren Ende bekanntes Griechisch und in der Mitte eine Sprache mit merkwürdigen Schriftzeichen, die sich als Demotisch herausstellen sollte. War es mit diesem Fund und mithilfe des Steins tatsächlich möglich, hinter die bis dato noch nicht entschlüsselten Hieroglyphen zu gelangen?
Bevor der Stein von Experten eingehend begutachtet werden konnte, nahm dieser dank der kriegerischen Auseinandersetzungen in Nordafrika noch eine aufsehenerregende Odyssee auf sich. Schließlich gelangte er 1802 ins British Museum nach London, wo er auch heute noch kostenfrei besichtigt werden kann. In den Folgejahren bissen sich allerdings die größten Experten des Abendlandes ihre Zähne an diesem Stein aus. Insbesondere war lange Zeit unklar, ob die Hieroglyphen eher eine Symbol- oder eine Alphabetsprache waren oder irgendetwas dazwischen? Einiges sprach nach Jahren der Analyse schließlich für letzteres, doch war noch lange nicht ersichtlich, wann Hieroglyphen Buchstaben darstellten und wann sie etwas symbolisierten. Insbesondere zwei Forscher hatten sich der Entschlüsselung der Hieroglyphen verschrieben, zum einen der französische Sprachwissenschaftler Jean-François Champollion und zum anderen das englische Universalgenie Thomas Young. Beide sollten sich einen dramatischen Wettlauf um die Entschlüsselung liefern.
Das vorliegende Buch zeichnet dieses Duell beinahe minutiös nach und trägt daher selbstredend den Titel "Die Entschlüsselung der Hieroglyphen". Hinter diesem Werk steht mit Edward Dolnick ein erfahrener amerikanischer Wissenschaftsautor, der in seiner Bibliographie bereits einige Bücher und Artikel zu historischen und wissenschaftlichen Themen stehen hat. Die deutsche Übersetzung seines im vergangenen Jahr erschienenen Buchs ist bei Nagel & Kimche verlegt worden. Die Herausforderung bei der deutschsprachigen Ausgabe, die verschiedenen englischsprachlichen Erläuterungen adäquat ins Deutsche zu transferieren, ist dem Übersetzer definitiv gelungen. Der Autor nimmt den Leser mit auf eine Reise in die Frühzeit der Antike, als das ägyptische Reich über Jahrtausende hinweg blühte und herrschte, und in den Übergang zur Neuzeit, als kriegerische Aktivitäten dazu führten, dass der Schleier von einem sehr alten Geheimnis gelüftet werden konnte.
Dolnick begeistert mit seinem Rundumblick, den er im vorliegenden Buch an den Tag legt. Wann immer nötig, schiebt er Exkursionen zu bestimmten Themen ein, bevor er die Geschichte um den Wettlauf der Entschlüsselung weitererzählt. So erfährt der Leser einiges zu historischen wie zeitgeschichtlichen Themen, aber auch viele Aspekte rund um Sprache und Schrift werden vom Autor beackert. Dies dient vorrangig dazu, dem Leser die extreme Komplexität der Arbeit von Champollion und Young transparent zu machen. Man muss sich vom bekannten Konzept einer reinen Alphabetsprache lösen, um zu verstehen, warum so viele kluge Köpfe an den Hieroglyphen scheiterten und welchen glücklichen Umständen es zu verdanken war, dass Young und vor allem Champollion den gordischen Knoten durchschlagen konnten.
"Die Entschlüsselung der Hieroglyphen" ist ein heißer Anwärter auf die Auszeichnung als "Sachbuch des Jahres". Man beginnt als Leser im Verlauf des Buchs dank Dolnicks schrittweiser Darstellung zu verstehen, wie sich Sprache entwickelte und welch hybride Sonderstellung die ägyptischen Hieroglyphen im Vergleich zu modernen Sprachen und Schriften sowie reinen Symbol- und Bildsprachen einnehmen. Wer es zu schätzen weiß, wenn man am Ende eines Buchs wieder mal ein wenig schlauer ist als zu dessen Beginn, und dabei auch noch gut unterhalten werden möchte, der ist hier genau an der richtigen Adresse!
Christoph Mahnel
25.07.2022