Medien & Gesellschaft
Das Ende der heiteren Spiele
Die XX. Olympischen Sommerspiele 1972 begannen am 26. August in München als ein strahlendes Fest. Nur 27 Jahre nach Kriegsende fanden olympische Wettkämpfe wieder auf deutschem Boden statt. Eingedenk von Hitlers Propaganda-Show im Rahmen der Spiele von 1936, die nur drei Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs als deutsche Machtdemonstration angelegt waren, blickte die Welt nun gespannt auf die bayrische Landeshauptstadt. Eine ganze Nation war aufgeregt und wollte sich fröhlich und heiter präsentieren. Dies gelang zunächst auch ganz hervorragend, das prächtige Wetter tat ein Übriges, so dass die ersten anderthalb Wochen des gut zweiwöchigen Spektakels tatsächlich den Begriff der "heiteren Spiele" prägten. Doch gab es Menschen und Gruppierungen, denen an diesem Bild nicht viel gelegen war. Als nämlich am sehr frühen Morgen des 5. September 1972 acht Männer über die Umzäunung des olympischen Dorfes kletterten, stand der schrecklichste Tag in der gesamten olympischen Historie bevor.
Acht Palästinenser, Mitglieder der Terrorzelle "Schwarzer September", hatten ein leichtes Spiel, in das olympische Dorf vorzudringen. Ihr Ziel war die Connollystraße 31, die Unterkunft der israelischen Olympioniken. Kurz nach halb fünf brachen sie dort ein und nahmen elf überrumpelte Männer als Geiseln. Zwei davon ließen ihr Leben bereits am Morgen. Über den Tag hinweg zogen sich zäh und wenig durchdacht die Verhandlungen mit den Geiselnehmern. Am Abend wurden die Geiseln und ihre Peiniger schließlich nach Fürstenfeldbruck auf den nahegelegenen Fliegerhorst zur nie wirklich angedachten Ausreise mit einer Boeing 727 gebracht. Dort kam es schließlich noch vor Mitternacht zum absoluten Fiasko, als nach einem unkoordinierten Einsatzbefehl in einer wilden Schießerei alle Geiseln ums Leben kamen, dazu fünf der acht Terroristen sowie ein deutscher Polizist.
Die Tage von München im Spätsommer 1972 waren eine Achterbahnfahrt der Extreme, erst die in dieser Ausprägung nicht für möglich gehaltene bunte und heitere Veranstaltung, dann der brutale Schock des 5. September und schließlich eine vom IOC mehr oder weniger erzwungene Fortsetzung der Spiele. All dies hat Sven Felix Kellerhoff in seinem zum 50. Jahrestag der Spiele von 1972 erschienenen Buch "Anschlag auf Olympia - Was 1972 in München wirklich geschah" aufgearbeitet. Kellerhoff, zum Zeitpunkt der Spiele von München selbst gerade einmal ein Jahr alt, begleitet als Journalist dieses Thema schon seit geraumer Zeit, nun also trägt er seine über Jahre hinweg gesammelten Recherchen zusammen und liefert einen gelungenen Abriss dazu ab. Der Autor legt seinen Schwerpunkt dabei auf tatsächlich gesicherte Quellen, da es in den vergangenen 50 Jahren viele Darstellungen zum Münchener Olympia-Attentat gegeben hat, die stark durch subjektive Erinnerungen und vom Hörensagen geprägt waren.
"Anschlag auf Olympia" begibt sich zu Beginn auf die Reise in die Sechziger Jahre, als die Idee geboren wurde, die Spiele nach Deutschland zu holen. Was heutzutage komplett abwegig erscheint, war bereits damals ein schwieriges Unterfangen. Doch mit Willi Daume als Präsident des Nationalen Olympischen Komitees und Hans-Jochen Vogel, dem damaligen Münchener Oberbürgermeister, trieben zwei Männer diese Idee mit viel Enthusiasmus und den richtigen Kontakten voran. Im weiteren Verlauf schildert Kellerhoff die zwar bemühten, letztlich aber zu naiven Sicherheitsplanungen im Vorfeld der Spiele, auch die heiteren Tage von München kommen im vorliegenden Buch nicht zu kurz. In seinem Element ist der Autor schließlich während der minutiös geschilderten Abläufe des 5. September von der Morgendämmerung bis hinein in die tiefe Nacht. Mit den bis in die heutige Zeit andauernden Nachwirkungen dieses schrecklichen Tages rundet Kellerhoff sein Buch ab.
Der Autor und die herausgebende Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt preisen "Anschlag auf Olympia" damit, dass Kellerhoff bisher nicht ausgewertete Akten herangezogen habe und zu ganz neuen Einschätzungen der Ereignisse komme. Für zeitgeschichtlich interessierte Menschen mag dies etwas überzogen daherkommen, doch hat Kellerhoff mit den Berichten dreier DDR-Journalisten, die damals gegenüber der Connollystraße 31 ihr Quartier bezogen hatten, neue Quellen verarbeitet und darüber hinaus das gesamte vorliegende Quellenmaterial sorgsam sortiert, um ein zu 100% fundiertes Buch abliefern zu können. Dies wird darin deutlich, dass er jede seiner zentralen Aussagen und Schilderungen mittels Fußnoten objektiv akzeptierten Quellen zuordnen kann. Leider war das Lektorat für dieses Buch weniger pedantisch, so dass einige Rechtschreibfehler für den einen oder anderen Schluckauf beim Lesen sorgen. Dennoch: Wer sich aus der heutigen Perspektive ein knappes halbes Jahrhundert danach intensiv mit dem 5. September 1972 beschäftigen möchte, muss bei diesem Buch zugreifen.
Christoph Mahnel
04.04.2022