Medien & Gesellschaft
Vom Jahrhundertspiel, das keines werden durfte
Am 20. Oktober 1971 war noch früh in der Spielzeit 1971/72 der Tisch gedeckt für ein Festmahl im europäischen Fußball. Seinerzeit befand sich der italienische Catenaccio, die Kunstform des rigorosen Verteidigens, in seiner Blütezeit. Insbesondere Inter Mailand verstand sich blendend darauf, dass die Null steht. Ihre Spiele endeten in der Regel mit keinem oder maximal einem Gegentor. Dagegen waren die jungen Wilden vom Gladbacher Bökelberg unter ihrem Trainer Hennes Weisweiler versessen darauf, über ihre Gegner mit einem Angriffswirbel hinwegzufegen. In den beiden Jahren zuvor hatten sie die ersten deutschen Meisterschaften der Vereinsgeschichte eingefahren und durften somit im altehrwürdigen Europapokal der Landesmeister, dem Vorläufer der heutigen Champions League, mitwirken. Die Losfee bescherte diesem Wettbewerb allerdings bereits im Achtelfinale das absolute Kracherlos: Borussia Mönchengladbach gegen Inter Mailand.
Das Hinspiel stieg an einem Mittwochabend auf dem Bökelberg vor den Augen von 27.500 Zuschauern. Mehr Menschen bekamen dieses Highlight der Fußballgeschichte nicht zu sehen, da sich ARD und Borussia Mönchengladbach wegen eines vierstelligen DM-Betrages nicht auf eine Fernsehübertragung verständigen konnten. Das erwartete Duell auf Augenhöhe zeichnete sich scheinbar dann auch sogleich ab. Die Führung durch Jupp Heynckes konnte Inter mit dem Ausgleich kontern, doch dann brachen noch in der ersten Halbzeit alle Dämme. Mit vier blitzsauberen Toren stellten die Gladbacher Fohlen den Spielstand vor dem Pausentee auf sage und schreibe 5:1. Auch nach dem Seitenwechsel gab man sich nicht mit einer guten Ausgangsposition für das Rückspiel in Mailand zufrieden, sondern legte mit zwei weiteren Toren nach. Die Zuschauer rieben sich ob des angezeigten Ergebnisses auf der Stadiontafel sowie der Aufführung auf dem Rasen voller Verwunderung die Augen. Ein Jahrhundertspiel hatten sie miterlebt und waren Zeitzeugen einer Darbietung gewesen, die garantiert ihren Platz in den Geschichtsbüchern einnehmen würde. Doch leider nur vermeintlich, gab es doch jene ominöse 28. Minute, die alles ad absurdum führen sollte.
Beim Stand von 2:1 für die Gladbacher war eine Cola-Dose von den Rängen geworfen worden und irgendwie auf den Inter-Stürmer Roberto Boninsegna gesegelt. Dieser zog alle Register italienischer Schauspielkunst und packte die Gelegenheit beim Schopfe. Scheinbar schwer getroffen und ebenso verletzt ließ er sich auf der Trage abtransportieren und auswechseln. Dem Protest der Italiener bei der UEFA nach Spielschluss wurde schließlich stattgegeben und das sagenhafte 7:1-Spiel annulliert. Im Wiederholungsspiel machten die Italiener dem Catenaccio alle Ehre und trotzten den Gladbachern ein 0:0 ab. Da das Rückspiel in Mailand mit 4:2 an die Gastgeber ging, waren die Emporkömmlinge vom Niederrhein trotz eines legendären Fußballspiels ausgeschieden. Glücklicherweise hatte der Fußballgott ein finales Einsehen und Ajax Amsterdam mit Johan Cruyff konnte Inter Mailand im Endspiel jenes Wettbewerbs in die Schranken weisen.
Auch ein halbes Jahrhundert danach ist diese Fußball-Demonstration - sicherlich auch gerade wegen ihrer Tragik der Annullierung - immer noch in aller Munde. Zum fünfzigsten Jahrestag ist nun mit "Der Büchsenwurf vom Bökelberg" ein Buch erschienen, das wie eine Hommage an dieses Spiel daherkommt. Verantwortlich zeichnen dafür Markus Aretz, der Leiter der Unternehmenskommunikation bei Borussia Mönchengladbach, und zwei seiner Mitarbeiter. Auf 120 Seiten betten sie die 90 Minuten vom Bökelberg ein in den fußballhistorischen Kontext. Eingeleitet wird das vorliegende Buch durch ein Vorwort Günter Netzers, der damals selbst auf dem Höhepunkt fußballerischen Schaffens zwei Tore zum 7:1 beisteuerte. Darin kommt er sehr pathetisch, aber dennoch treffend zu dem Schluss, dass man von diesem Spiel immer noch erzählen wird, auch wenn die Protagonisten alle nicht mehr da sind.
In weiteren Kapiteln berichten die Autoren vom bisherigen Saisonverlauf der beiden Teams, schließlich hatten die Gladbacher in der ersten Runde des Europapokals noch den irischen Meister Cork Hibernian auszuschalten. Das Spiel gegen Inter wird dann minutiös zum Besten gegeben, die letztlich schicksalshafte 28. Minute erhält gar eine separate Illustration. Viele Interviews mit Protagonisten, die ganz nah am Spielgeschehen dran waren, lassen einen noch mal teilhaben an den Ereignissen vor fünfzig Jahren. Der Schiedsrichter kommt zu Wort, genauso wie die beiden Gladbacher Spieler Luggi Müller und Rainer Bonhof. Während sich Müller beim Wiederholungsspiel nach einem Foul des besagten Roberto Boninsegna Schien- und Wadenbein brach, konstatiert Bonhof, Weltmeister von 1974, dass ihm die Aberkennung des 7:1 bis heute noch nachhängt. Doch auch die andere Seite wird gehört und zwar mit Boninsegna der Mann, um den sich alles drehte. Der Leser wird allerdings selbst entscheiden müssen, ob er dem Gesagten Glauben schenken will oder nicht.
Ein 7:1 gab es bekanntermaßen auch knapp 43 Jahre später, als die deutsche Nationalmannschaft bei der WM in Brasilien im Halbfinale die Gastgeber auseinandernahm. So kann sich auch der jüngere Fan durchaus ein Bild davon machen, was in jener Oktobernacht am Niederrhein von statten gegangen sein muss. Doch während das Spektakel von Jogis Jungs unvergessen ist und unumstößlich Eingang in die Geschichtsbücher des Fußballs gefunden hat, ist die Demontage der Italiener zumindest aus den offiziellen Ergebnistableaus gestrichen worden. Dass dieses Ereignis jedoch auch heute noch alle Menschen, die damals dabei sein durften, bewegt, macht das vorliegende Buch unzweifelhaft deutlich. So war es definitiv an der Zeit, dass dieses Spiel eine entsprechende Würdigung in Form eines gelungenen Machwerks erfährt. Erschienen im Göttinger Werkstatt Verlag ist "Der Büchsenwurf vom Bökelberg" definitiv kein Buch ausschließlich für Gladbach-Fans, sondern ein Muss für Fußball-Nostalgiker und Freunde des schönen Spiels.
Christoph Mahnel
08.11.2021