Medien & Gesellschaft
Ein "Glubberer" in der Intimzone der Stars
Der "Kicker" ist unangefochten die Numero Eins unter den deutschen Fußball-Zeitschriften. Im kommenden Jahr feiert das Blatt seinen 100. Geburtstag und hat selbst im Zeitalter von Facebook, Instagram und Co. seine Bedeutung für den deutschen Fußball und dessen Fans zementieren können. Einst gegründet durch Walther Bensemann, Kosmopolit und "Godfather" der frühen deutschen Fußballjahre, in Konstanz am Bodensee wanderte der "Kicker" schon bald nach Nürnberg, wo sich auch heute noch der Hauptsitz der Redaktion befindet. Seit vielen Jahrzehnten erscheint er zweimal wöchentlich: Montag und Donnerstag sind die "Kicker"-Tage und fixe Termine in Kopf und Kalender des hiesigen Fußball-Fans. Im Zuge von oberflächlicher Berichterstattung und Sensationsjournalismus ist sich der "Kicker" jedoch treu geblieben und glänzt stattdessen mit fundierter Expertise.
Viele Größen des deutschen Sportjournalismus haben ihren Weg über den "Kicker" genommen oder sich dort über Jahrzehnte verdingt. Ein solch treuer Gefährte ist Harald Kaiser, Jahrgang 1957 und "Glubberer" von tiefstem Herzen, also Anhänger der lokalen Fahrstuhlmannschaft des 1. FC Nürnberg. Trotzdem hat er mit seriösem und - zumindest bei Nicht-Beteiligung seiner Lieblingsmannschaft - neutralem Journalismus insgesamt 36 Jahre beim "Kicker" über alle Stars des nationalen und internationalen Fußballs berichtet. In der Bundesliga war er auf die süddeutschen Vereine fokussiert und jahrelang hauptamtlicher Reporter aus dem tiefsten Inneren eines FC Bayern München, VfB Stuttgart oder auch 1. FC Ingolstadt. Die große Bühne des Fußballs hat er auf insgesamt zehn Welt- und Europameisterschaften betreten dürfen.
Dass in einem solchen Journalistenleben viele Anekdoten geboren werden, an denen der gemeine Fußball-Fan nur allzu gerne teilhaben möchte, ist selbstverständlich. Harald Kaiser hat seine besonderen Erlebnisse nun zusammengetragen und im vorliegenden Buch zu Papier gebracht: "Ronaldo, Matthäus & ich. Mein Leben als kicker-Reporter" lautet der Titel des soeben beim Göttinger Werkstatt Verlag erschienen Buchs. Auf 160 Seiten widmet er sich insgesamt 23 Größen des grünen Rasens bzw. der Trainerbank. Gefühlt sind alle Stars der letzten vier Jahrzehnte darunter vertreten. Neben den prägenden Protagonisten des deutschen Fußballs hat Kaiser auch seine Begegnungen mit den allergrößten Kickern des Planeten zu Papier gebracht. Interessiert lauscht man seinen Annäherungsversuchen gegenüber Cristiano Ronaldo oder Zinedine Zidane, mit dem er sich allerdings scheinbar mehr über Lego-Steine als über Fußball unterhalten hat.
Die 23 Kapitel sind nach ein und derselben Machart aufgebaut: Beginnend mit einer meist überraschenden Einleitung gelangt er über eine kurze Zusammenfassung von Vita und Erfolgen der jeweiligen Fußballgröße zu seinen persönlichen Berührungspunkten mit dieser. Abgerundet wird jedes Kapitel durch einen kurzen Steckbrief in Kastenform, der die wichtigsten Zahlen und Fakten bereithält. Selbst über niemals stattgefundene Begegnungen wie im Falle von Max Morlock, dem größten Nürnberger Fußballer aller Zeiten, weiß Kaiser Interessantes zu berichten. Dem Leser wird deutlich, welchen Spagat Sportjournalisten bewältigen müssen, da sie einerseits ihrem Job als neutralem und kritischem Beobachter nachkommen sollten und andererseits Beziehungspflege mit den Stars betreiben müssen, um Redezeiten mit diesen zu erhaschen. Die Kapitel über die streitbaren Udo Lattek und Hans Meyer verdeutlichen dies sehr anschaulich.
Im Spätherbst seiner Karriere ist sich Harald Kaiser auch nicht zu schade, unangenehme Peinlichkeiten aus seinem Leben preiszugeben. Als Alex Ferguson noch kein Sir war und anno 1983 als junger Trainer des FC Aberdeen im Europapokalfinale stand, hatte Kaiser, selbst noch Novize in diesen Jahren, die fantastische Möglichkeit, kurz vor dem Finale mit Ferguson ein Interview zu führen. Doch war dessen Glasgower Akzent für den jungen Franken völlig unverständlich, so dass dieser nach dem Interview nichts Verwertbares aufweisen konnte. Aberdeen gewann das Finale und Ferguson startete kurz danach seine Weltkarriere als Trainer, doch nie gelangte ein Fetzen dieses sehr einseitigen Gesprächs mit Harald Kaiser in eine Ausgabe des "Kicker". Als Fußball-Fan sind solche Anekdoten der Anreiz, diese Sammlung von Harald Kaiser zu erwerben und zusammen mit ihm in die Intimzone einiger Fußballgrößen vorzudringen.
Christoph Mahnel
08.04.2019