Biographie

Erinnerung - ein kostbares Gut; Heimat – eine schmerzvolle Sehnsucht

Mit Bestürzung durfte man in der jüngeren Vergangenheit Ergebnisse einer Umfrage zur Kenntnis nehmen, in deren Rahmen 14 bis 18jährige Jugendliche zugaben, dass ihnen die Teilung Deutschlands in zwei Staaten und die Existenz eines Landes namens DDR nicht bekannt gewesen ist. Dass es einmal eine Mauer in Berlin gab, die Ost und West nicht nur geographisch sondern auch ideologisch voneinander teilte, war den jungen Befragten nicht bewusst.

24 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und im fünfundzwanzigsten Jahr nach dem Wunder der Wiedervereinigung, die aus den Ereignissen der friedlichen Revolution der Demonstrierenden auf den Straßen Leipzigs, Dresdens oder Erfurts hervorging, scheint dieser Teil der deutschen Geschichte vor allem bei Angehörigen jüngerer Generationen in Vergessenheit geraten zu sein oder keine Rolle mehr zu spielen. Während Hitler und seine Schergen des Nationalsozialismus weiterhin in deutschen Medien eine breite Behandlung und Beschäftigung erfahren, scheint Erich Honecker als harmloser, von Tribünen lächelnder "Onkel", der den Menschen zuwinkt, ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Der Mythos Hitler verliert nichts von seiner ambivalenten Anziehungskraft, aber die ehemalige DDR als "Unrechtsstaat" zu titulieren, scheint in heutiger Zeit nicht mehr politischer Korrektheit zu entsprechen. Ja, mitunter konnte man im Zuge der sogenannten Ostalgie-Welle, zu der gerade auch die jüngere deutsche Gegenwartsliteratur beigetragen hat, eine Verniedlichung des "Ländchens" DDR, wie die 1977 in den Westen ausgereiste Lyrikerin Sarah Kirsch ihr Herkunftsland einmal mit scharfzüngiger Ironie bezeichnet hat, ausmachen und diese Verniedlichung legte sich wie ein Schleier über das ganze Unrecht und Leid, das ein Staat seinen Bürgern hat zukommen lassen.

Wenn schon nicht mehr der Schulunterricht in angemessener Weise über Vergangenes berichtet und aufklärt, bleibt es das Vermächtnis der Zeitzeugen über die Epoche der deutsch-deutschen Teilung Zeugnis abzulegen. Ihnen gilt es, zuzuhören und sie zu Wort kommen zu lassen, solange es ihnen noch möglich ist. Ingrid R. Donath, die sich als Autorin liebenswerter Kinderbücher einen Namen gemacht hat, legt mit "Weil unsere Heimat unsere Flügel sind" nun einen Titel vor, in dem sie an der Schnittstelle von Erinnerungen und Heimat sozusagen ihre eigene Mutter zu Wort kommen und Zeugnis ablegen lässt. In dem ästhetisch sehr geschmackvollen Layout der Jubiläums-Edition der Frankfurter Verlagsgruppe eröffnet sich dem Leser ein besonderes Lektüreerlebnis, das sich inhaltlich vom literarischen Mainstream auf vielerlei Weise abhebt.

Das Buch gründet auf den Erinnerungen der Mutter der Autorin, einer hochbetagten Dame mit scharfem Verstand und dem untrüglichen Vermögen, die Erinnerungen an ein Leben unter den Bedingungen eines geteilten Deutschlands, an Flucht, den Verlust von Heimat und einem daraus resultierenden Aufbruch in einer neues und unsicheres Leben wachzuhalten. Als Autorin übernimmt Ingrid R. Donath die Aufgabe einer Chronistin zwischen Vergangenheit und Gegenwart und dokumentiert die ihr von ihrer Mutter geschilderten Episoden eines bewegten Lebens – uns Lesern zur Erinnerung, zum Wissen und zur Mahnung! Wie wir mit dieser Art Vermächtnis umgehen und was wir auf der Grundlage dieser Lektüre daraus machen, sei jedem selbst überlassen. Aber wenn man sich alleine das Bild dieses gemeinschaftlichen Austauschs zwischen Mutter und Tochter vorstellt, der der Niederschrift des Buches vorausgeht, die Erzählungen über die Flucht der Familie - die Autorin selbst war zu diesem dramatischen Wendepunkt ein Kind im Alter von einem Jahr -, kann es dann nicht so etwas wie eine Verantwortung geben, sich Literatur zu zuwenden, um aus ihr lernen und verstehen zu können?

Ingrid R. Donath gibt Einblick in das private Schicksal ihrer in Thüringen beheimateten Familie und stellt dieses im Rahmen ihres Erzählens und Erinnerns in einen übergeordneten Kontext deutsch-deutscher Geschichte. Sie tut das auf eine ganz bescheidene und zurückhaltende Art und Weise. Im Mittelpunkt steht eine Geschichte zwischen Bangen und Hoffen, die Geschichte einer Familie, die immer unmittelbarer staatlichen Repressalien ausgesetzt ist und ein Leben in Frieden und Freiheit ersehnt. Um einen Satz wie den Entschluss Ihres Vaters "Für uns gibt es nur die Flucht!" in seiner ganzen Tragweite und Dramatik aus heutiger Perspektive, aus der Sicht eines Lesers im Jahre 2015, verstehen zu können, dem muss die Lektüre des Buches eindringlich ans Herz gelegt werden. Wer verstehen und begreifen möchte, welche sozialen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen einem solchen Entschluss vorausgehen und welche unmittelbaren Konsequenzen dieser Satz dann für eine junge Familie mit kleinen Kindern zur Folge haben wird, lässt sich auf Literatur als Bewusstwerdungs- und Verstehensprozeß ein. Die Spannung, die dieser Text hervorruft, ergibt sich aus der Schilderung der Umstände, mit denen die Eltern konfrontiert sind, und aus der Skizzierung, wie sehr eine äußere Not in eine innere Notwendigkeit übergehen kann.

Literatur ist uns nicht nur gegeben, um uns zu unterhalten, Zerstreuung und Muße zu schenken, sondern die Existenzberechtigung von Literatur liegt auch darin begründet, dass sie uns über Dinge aufklärt und informiert, unsere Sicht auf die Welt schärft, uns Sachverhalte und Zusammenhänge erklärt und uns als Leser die Möglichkeit bietet, durch die Lektüre zu reifen. Mit den festgehaltenen Erinnerungen an die Flucht ihrer Familie aus dem Osten in den Westen ist der Autorin das auf eindrucksvolle Weise gelungen.

Ganz nebenbei ist das liebevolle Porträt einer besonders wagemutigen Frau entstanden. Die Entschlossenheit und Tatkraft der Mutter von Ingrid R. Donath sucht Ihresgleichen. Die Szene des Aufeinandertreffens in Fulda zwischen der jungen Frau und dem Landrat Dr. Georg Stieler ist eine der berührendsten Stellen im Buch, weil deutlich wird, dass es in jenen kargen und rauen Zeiten doch noch Menschlichkeit – Mitmenschlichkeit - gab. Man kann nur Hochachtung haben, wie dieser weisungsgebundene Mann sich über seinen Amtseid und daran gebundene Regelungen hinwegsetzt, um unbürokratisch Hilfe zu leisten und dem Schicksal einer Familie durch das Ausstellen der wichtigen West-Papiere eine neue Wendung zu geben. In diesem kurzen Moment der Begegnung zwischen diesen beiden Personen hat einer erkannt, was ein anderer auf sich nehmen wird – weil die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft und einem Leben in Freiheit so übergroß ist und außergewöhnliche Schritte tun lässt.

Vor dieser Begegnung steht der von der Mutter gefasste Plan, sich alleine, nachdem ihr Mann bei einer ersten Erkundungstour nach dem günstigsten Fluchtweg von Russen kurzfristig inhaftiert wurde, auf den Weg in den Westen zu machen und die notwendigen Vorbereitungen für die endgültige Flucht einzuleiten. Die Beschreibung dieses Weges der jungen Frau, die ganz auf sich gestellt durch den Thüringer Wald läuft, die Landkarte eingeprägt, die Nächte in schützenden Mulden im Unterholz sitzend und auf das erste Morgengrauen wartend, stets die russischen Patrouillen im Grenzgebiet im Nacken wissend, Blasen an den zerschundenen Füßen, sich immer wieder ins Gedächtnis rufend "Ich schaffe es!" und angetrieben von der Aussicht auf Freiheit für die Familie, ist ein so kraftvolles Stück Literatur, das einen unnachahmlichen Sog entwickelt. Ingrid R. Donath schmückt nichts aus und dramatisiert nichts. Sie erzählt mittels einer klaren und eingängigen Sprache und lässt den Erinnerungen ihrer Mutter den gebührenden Raum. So dass man als Leser, der das Geschilderte nur vom Hörensagen oder durch mediale Inszenierungen kennt, eine ungefähre Ahnung davon bekommen kann, wie es gewesen sein muss und was es bedeutet: Flucht, Trennung, Heimat hinter sich zu lassen, dem Ungewissen, das auf diesem Weg liegt, zu begegnen. Die Lektüre von Ingrid R. Donaths Erinnerungsbuch vermittelt einem diese Möglichkeit einer Vorstellung und lässt einen an etlichen Stellen ebenso demütig werden wie vor ungläubigem Staunen angesichts der erfahrenen Dramatik im Leseprozeß innehalten!

Nicht unerwähnt soll an dieser Stelle der im Text zur Sprache kommende Gedanke der Autorin bleiben, wie schwer sie sich selbst all die Jahre "danach", nach der Ankunft im Westen und dem Schaffen einer neuen Existenz, mit dem Empfinden von Heimat getan hat. Sehr differenziert lässt Ingrid R. Donath den Leser an ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit Heimat Anteil nehmen. Und kommt auf der Grundlage der wechselvollen Geschichte ihrer Familie zu einem eigenen Entschluss: "Ich trage sie in mir. […] Im Hier und Jetzt gibt es für mich keinen festen Ort, den man Heimat nennen kann."

Was für eine anrührend-schöne Aussage, doch dieser Erkenntnis, so darf vermutet werden, geht ein über viele Jahre anhaltendes Suchen und Hinterfragen des einen Orts, dem Bedürfnis des Ankommens, voraus und vielleicht letztlich die Befreiung von der Last, Heimat als geographisch fixierten Punkt benennen zu müssen. Heimat kann eine existentielle Sehnsucht sein, viel größer als ein einziger Ort.

Das Buch hat bei mir eine nachhaltige Wirkung hinterlassen. Als jemand, der in Frieden und Freiheit groß geworden ist und für den ein Leben ohne die Erfahrung des Krieges, Lebensmittelmarken, Rationierungen und vor allem die Trennung von Familie selbstverständlich ist, bedeutet dieser Blick zurück, den mir die Aufzeichnungen ermöglichen, einen unschätzbaren Wert im Begreifen und Erfassen geschichtlicher Begebenheiten. Wir brauchen Texte wie diese persönlichen Zeugnisse, diese kleinen, kostbaren Perlen der Erinnerung an zurückliegende Zeiten, ihre komplexen und schmerzhaften Verwirrungen, in welche die Familien eingebunden waren, um nachvollziehen zu können, was der Verlust von Heimat für einen Menschen bedeuten kann und welche schicksalhafte Bedeutung Sätze tragen wie der von der "stillen Sehnsucht, die sich auf die Seele legt."

Dr. Matthias Deußer
20.07.2015

 
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Das Buch:

Ingrid R. Donath: Weil unsere Heimat unsere Flügel sind 1947 - Die Flucht meiner Familie aus Thüringen

Frankfurt: Jubiläums-Edition der Frankfurter Verlagsgruppe 2015
24,00 €
ISBN 978-3-8372-1695-0

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